Es war das erste
Weihnachten, das Robin ohne seine Eltern verbrachte. Jedes Jahr gab
es ein leckeres Essen und viele schöne Geschenke. Der Tannenbaum
wurde herrlich geschmückt und das ganze Haus dekoriert. Dies blieb
dieses Jahr aus.
Zwar hatten sich die
Lehrerinnen Frau Funke, Frau Bottenberg und Frau d'Air bemüht, die
Mensa herzurichten, aber wirkliche Weihnachtsstimmung kam nicht auf.
Es hingen einige Papiersterne von der Decke, der Tisch war mit
weihnachtlichen Papierservietten ausgestattet, aber es gab
beispielsweise keinen Weihnachtsbaum.
Frau Bottenberg sorgte
fürs leibliche Wohl und es gab ein ausgezeichnetes Weihnachtsessen,
an dem Robin, Jojo, Marin und alle Lehrkräfte teilnahmen. Und obwohl
sogar Tiberius von Zimmenthal anwesend war, war die Stimmung
einigermaßen fröhlich. Aber das gleiche war es dennoch nicht.
Am späten Abend gingen
alle pappsatt auf ihr Zimmer zurück. Da Robin nicht so viel Lust
hatte, mit Marin zu quatschen, ging er schnell unter die Dusche und
sofort ins Bett. Damit war Heiligabend für ihn gegessen. Jetzt
blieben noch zwei Tage und dann würde er auch schon seine geliebte
Marina wiedersehen. Darauf freute er sich ungemein.
Mit diesem Gedanken
schlief er sogar recht schnell ein.
Am nächsten Morgen
erwachte der Sechzehnjährige ziemlich früh. Er fühlte sich matt
und ihm war schwindelig. Ihm war so, als ob er einen Kater hätte,
wobei es am Vortag gar keinen Alkohol gab. Da bemerkte er, dass er am
Vortag für seine Verhältnisse sehr schnell eingeschlafen war. Wurde
er krank? War da etwa eine Grippe im Anmarsch?
Wie benommen erhob er
sich von seinem Bett und ging ins Bad. Erst als er sich Wasser ins
Gesicht spritzte, ging es ihm etwas besser. Vielleicht war das Essen
nicht in Ordnung. Daher wollte er wissen, ob sich Marin auch so mies
fühlte.
Er kehrte ins Zimmer
zurück und sah nun, dass sein Nachbarbett leer war und ein Zettel
darauf lag. Verwundert nahm er ihn in die Hand und laß die
Nachricht:
Wenn
ihr Marin Hollenbach lebend wiedersehen wollt, dann kommen
ausnahmslos alle Lehrkräfte heute Abend um 20:00 Uhr zu den
folgenden Koordinaten. Wenn die E-Wehr alarmiert wird, ist der
Student ist tot.
Dann waren da noch ein
paar Ziffern unter dem Text, die wohl die Koordinaten angaben.
Entsetzt laß sich Robin
den Zettel ein paar Mal durch. Dann zog er sich schnell seine Schuhe
an und rannte ins Verwaltungsgebäude. Da scheinbar niemand in seinem
Büro war, suchte er Rektor Quinns Schlafzimmer auf. Er klopfte
vehement an die Tür, bis der Rektor öffnete. Zum ersten Mal sah er
den älteren Herrn mit den weißen Haaren und dem weißen Rauschebart
unbeherrscht:
„Was
wollen Sie in aller Herrgottsfrühe von mir?“
„Hier“,
antwortete Robin und reichte dem Schulleiter den Zettel.
Dieser laß ihn sofort
durch, wobei sich seine Augen weit öffneten. Dann sagte er
schließlich:
„In
zehn Minuten in meinem Büro. Sagen Sie bitte auch Herrn Keller
Bescheid.“
Und tatsächlich befanden
sich alle Lehrkräfte, Robin sowie Jojo kurze Zeit später im Büro
des Rektors. Sie saßen um den großen Konferenztisch herum und
diskutierten.
Alle Lehrkräfte sahen
besorgt aus – sogar der Wasser-Elementarist Herr von Zimmenthal,
der sich zuerst äußerte:
„Wir
dürfen dieser Drohung nicht nachkommen.“
„Aber
dann ist Herr Hollenbach in großer Gefahr“, warf Frau Funke ein.
„Wollen
Sie etwa diesem Terroristen nachgeben?“, forderte sie Herr von
Zimmenthal auf. „Wir dürfen uns auf keinen Fall darauf einlassen.“
„Sie
haben natürlich recht, Herr Kollege“, entgegnete Rektor Quinn
zähneknirschend. „Aber ich bin andererseits nicht bereit, ein
Risiko einzugehen und gegebenenfalls Herrn Hollenbach zu opfern.“
„Darf
ich etwas einwenden?“, meldete sich nun Robin.
Alle Lehrer blickten den
jungen Elementaristen neugierig an. Sie fragten sich, was er zu sagen
hatte.
„Ja
bitte, Herr Held?“, forderte ihn Quinn auf.
„Also
ich glaube, mein Angreifer steckt dahinter.“
„Das
denke ich auch“, stimmte Frau Funke zu. „Ich glaube, darüber
sind wir uns einig.“
„Und
nach wie vor denke ich, dass Marin selbst dahinter steckt.“
Verblüfft blickten ihn
alle inklusive Jojo an.
„Wie
kommen Sie darauf?“, hakte Herr von Zimmenthal nach.
„Ich
vermute, er hat mir gestern etwas ins Glas gekippt, damit ich in der
Nacht nichts mitbekomme. Als ich heute aufwachte, fühlte ich mich
ganz komisch. Wahrscheinlich konnte er sich deshalb heute Nacht
unbemerkt aus dem Staub machen.“
„Warum
sollte er seine eigene Entführung vorspielen?“, wollte nun Frau
Bottenberg wissen.
„Er
möchte Sie von der Schule weglocken, damit er freie Bahn hat. Oder
warum sollte der mögliche Entführer ausgerechnet Marin entführen?
Dann hätte er doch auch mich oder Jojo oder sonstwen entführen
können? Außerdem musste der Entführer schon hier in der Schule
gewesen sein oder stehen keine Wachposten von der E-Wehr vor dem
Tor?“
„Um
ehrlich zu sein, wurden sie für die Weihnachtsfeiertage entlassen“,
gab der Schulleiter zu.
Robin schüttelte
entsetzt den Kopf. Das wusste er nicht.
„Dennoch“,
sprach er weiter, „spricht alles dafür, dass Marin selbst dahinter
steckt.“
„Ich
bin nicht überzeugt“, meldete sich nun Herr von Zimmenthal. „Herr
Hollenbach ist kein böser Mensch.“
„Das
glaube ich auch nicht“, fügte Frau Bottenberg hinzu. Auch Frau
Funke nickte. Nur Frau d'Air hielt sich zurück, aber sie kannte den
ehemaligen Schüler auch noch nicht so lange.
„Also
gut“, mischte sich nun Herr Quinn wieder ein. „Wir unternehmen
erst einmal garnichts und warten ab. Wir dürfen uns als Lehrkräfte
nicht so leicht aus der Reserve locken lassen. Aber wir alle bleiben
zusammen. Keiner geht alleine irgendwohin. Am besten versammeln wir
uns im Aufenthaltsraum. Da ist genug Platz für uns.“
So hatte der Rektor
gesprochen und alle folgten diesen Anweisungen. Robin war
erleichtert, dass sie nicht auf Marin reinfielen. Er war nun von
seiner Meinung vollkommen überzeugt. Jojo sagte nichts dazu.
Schweigend versammelten
sie sich im Aufenthaltsraum. Frau Bottenberg schaltete den Fernseher
ein und ließ einen Kanal mit einem Weihnachtskonzert laufen. Alle
setzten sich irgendwohin und schwiegen. Abwarten und Tee trinken war
die Divise.
Es war etwa 20:30 Uhr am
Abend. Man merkte, dass alle sehr nervös waren. Nun war die Frist
bereits eine halbe Stunde verstrichen. Entweder hatte Robin recht und
somit Marin nicht nachgegeben oder der junge Student war bereits
Fischfutter.
Plötzlich flog ein Stein
durchs Fenster. Glas zersplitterte und Herr von Zimmenthal rief:
„Achtung!“
Alle duckten sich weg. Da
lag nun der Stein mitten im Raum. Durch das zerbrochene Fenster wehte
kalter Wind. Da sah Robin, dass ein Beutel an dem Stein befestigt
war. Vorsichtig krabbelte er zu dem Stein.
„Vorsicht!“,
forderte Frau Funke ihn auf.
Das Elementum nahm den
Beutel in die Hand und schaute hinein. Ein weiterer Zettel war darin,
doch darauf waren rote Flecken. Blut.
„Oh
nein“, riefen Frau Bottenberg und Frau d'Air fast gleichzeitig.
„Da
ist noch etwas in dem Beutel“, sagte Robin völlig irritiert. Er
kippte den Beutel auf dem Boden aus und ein Finger fiel heraus.
Alle hielten den Atem an.
Schließlich ging Herr
von Zimmenthal auf Robin zu, nahm ihm den Zettel ab und laß vor:
„Ich
gebe Ihnen noch eine letzte halbe Stunde. Um 21:00 Uhr an den
Koordinaten oder nicht nur seine Finger fehlen am Ende an seinem
Körper.“
„Das
darf nicht wahr sein“, rief Frau Bottenberg erneut entsetzt. Dabei
schlug sie sich die Hände vor den Mund.
„Glauben
Sie immernoch, Herr Hollenbach steckt selbst dahinter?“, fragte
Herr von Zimmenthal das junge Elementum herausfordernd. Doch Robin
war so geschockt, dass er darauf nicht reagieren konnte.
Nun durfte nicht lange
gefackelt werden. Rektor Quinn forderte seine Kollegen auf, ihn zu
begleiten. Jojo und Robin sollen sich derweil irgendwo auf dem
Gelände verbarrikadieren. Eventuell war der Angreifer noch immer im
Haus 4E.
„Aber
wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.“
Damit war die Sache
beschlossen.
Bevor die Lehrkräfte
sich auf den Weg machten, mussten die beiden Jugendlichen ihrem
Rektor in sein Büro folgen.
„Ich
zeige Ihnen jetzt ein Geheimversteck, in dem Sie bleiben, bis wir
zurückkehren.“
Rektor Quinn schob den
Teppich auf dem Boden zur Seite und eine Falltür zeigte sich.
„Wow!“,
kommentierte Robin.
Der Schulleiter öffnete
die Klappe und bat die beiden Schüler, nach unten zu gehen.
„Wenn
wir in einer Stunde nicht zurück sind, alarmieren Sie die E-Wehr.
Sie holt sie dann da raus.“
„In
Ordnung“, bestätigte Jojo, der als einziger von ihnen beiden in
der Lage war, noch etwas zu sagen.
„Machen
Sie sich keine Sorgen. Niemand wird sie da unten finden. Nur die
Lehrkräfte kennen dieses Geheimversteck.“
Irgendwie beruhigte das
den Sechzehnjährigen immernoch nicht. Aber nun konnte er nicht mehr
widersprechen.
Als die Falltür wieder
zufiel, schaltete Jojo das Licht an. Sie befanden sich in einer Art
Bunker. Die Wände, der Boden und die Decke waren aus Stahl. In dem
Raum befand sich eine Bank und ein Schrank – beide ebenfalls aus
Metall. Als Jojo in den Schrank hineinsah, entdeckte er ein paar
Flaschen Wasser und ein paar Packungen mit Knabberzeug.
„Dieser
Bunker ist wohl nicht für einen Bombenangriff gebaut worden“,
erklärte der Erd-Elementarist. „Hier soll man wohl nur für eine
gewisse Zeit ausharren müssen.“
„Ersticken
werden wir nicht“, sagte Robin schließlich, weil er einen
Luftschacht entdeckte. „Immerhin.“
Dann holte er sein Handy
aus der Hosentasche und sah, dass er tatsächlich Empfang hatte.
Sofort wählte er Marinas Nummer, die auch recht schnell ranging.
„Hallo,
Robin! Wie läuft es im Haus 4E?“
Ihre Stimme klang
fröhlich, doch Robin konnte ihre Stimmung nicht erwidern:
„Hier
läfut es drunter und drüber. Dein Bruder wurde scheinbar entführt.
Die Lehrer sind gerade auf der Rettungsmission.“
„Oh
nein!“, spieh sie entsetzt aus.
„Jojo
und ich verstecken uns gerade hier in einem geheimen Bunker.“
„Ernsthaft?“
„Ich
vermute immernoch, es ist eine Falle.“
„Und
wer steckt deiner Meinung nach dahinter?“
„Ich
vermute immernoch, dass Marin das selbst inszeniert.“
„Was?“
„Du
weißt, was er für einer ist“, sprach er auf seine Freundin ein.
„Ja,
Marin ist ätzend“, bestätigte das Mädchen. „Du weißt, ich
kann meinen Bruder nicht leiden. Aber das würde er dennoch niemals
tun. Glaube mir, er ist nicht der Angreifer.“
„Ich
würde mir wünschen, dass du recht hast.“
„Robin,
ich mache mich sofort auf den Weg zu euch. In ein paar Stunden bin
ich da.“
Damit legte die
Wasser-Elementaristin auf. Robin dachte sich innerlich, dass es bis
dahin bestimmt schon vorbei war.