[Elementum 2] Stille Wasser - Kapitel 9

Am nächsten Tag würdigte Marina Robin keines Blickes. Sie grüßte ihn nicht und ignorierte ihn, was ihm Kummer bereitete. Dafür war Aria ihm gegenüber besonders fröhlich. Sie freute sich ungemein auf die Verabredung und sprach unentwegt davon. Sie überlegte, in welche Disko sie gehen würden, was Robin nicht im Geringsten interessierte. Lieber würde er die Zeit mit Marina verbringen.
Da geschah es. Mitten im Mathematik-Unterricht von Frau Funke kam Herr von Zimmenthal in den Klassenraum und bat Marina hinaus. Robin ahnte Schreckliches, aber er konnte ihr ja schlecht nachgehen.
Marina wurde von ihrem Tutor in das Büro des Rektors gerufen, wo nicht nur Herr Quinn an seinem Schreibtisch saß, sondern auch ihre Eltern.
Mama? Papa? Was macht ihr denn hier?“
Wir machen uns Sorgen um dich, mein Schatz“, antwortete Muriel mit einem traurigen Blick in den Augen.
Was ist los?“, wollte das Mädchen wissen.

Herr Quinn hielt ein Blatt Papier in die Höhe. Sofort erkannte Marina es als ihren Songtext. Verwundert schaute sie den Rektor an.
Ist das von Ihnen?“, fragte er ruhig.
Ja, das ist mein Text.“
Oh mein Gott“, rief Muriel aus und hielt sich die Hand vor den Mund.
Wieso?“, hakte die junge Wasser-Elementarstin nach.
Quinn versuchte das Ganze sehr sachlich zu regeln:
Ihre Eltern machen sich in gewisser Weise Sorgen um Sie. Der Text klingt nach suizidalen Gedanken.“
Wie bitte?“ Marina dachte, sie hörte nicht richtig.
Wir möchten, dass du mit uns nach Hause kommst“, sprach nun ihr Vater mit ruhiger, aber fester Stimme.
Was? Wieso das denn?“
Wir möchten, dass du mit jemanden darüber sprichst.“
Was soll der Unsinn? Ich habe keine Selbstmordgedanken. Wer erzählt euch denn diesen Unfug und von wem habt ihr überhaupt meinen Text?“
Marin hat ihn uns gestern gezeigt“, war Muriels Antwort, welche sie mit einem Zittern in der Stimme gab.
Marin?“ Das Mädchen spürte, wie eine Wut in ihr aufstieg. Das durfte doch nicht wahr sein. Ihr Bruder hatte das verzapft.
Er macht sich doch bloß auch nur Sorgen um dich“, erklärte Marius weiter.
Das ist doch Blödsinn“, widersprach sie. „Mir geht es gut und ich bleibe hier.“
Liebes“, flehte Muriel, „bitte komm mit uns und spreche mit Doktor Elbers.“
Marina kannte den Namen. Es war ein Studienkollege ihres Vaters, der sich auf Psychologie spezialisierte. Ihre Eltern wollten sie zum Psychologen schicken. Sie schüttelte nur den Kopf, drehte sich um und rannte aus der Tür.
Marina!“, schrie ihre Mutter noch, aber das Mädchen war weg.

Sie rannte so schnell sie konnte. Sie war stinksauer auf ihren Bruder. Wie konnte er ihr nur so etwas antun? Was bezweckte er damit? Wollte er sie loswerden?
Das Mädchen musste nicht weit gehen. Auf dem Schulhof lief sie ihrem Bruder quasi in die Arme. Ohne große Umwege, schrie sie ihn an:
Was soll das, Marin?“
Was meinst du?“, fragte er unschuldig.
Was erzählst du unseren Eltern? Sie denken jetzt, ich bin selbstmordgefährdet. Du weißt ganz genau, dass das nicht wahr ist.“
Aber Schwesterherz, dein Text klingt so depressiv. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
Das ist doch nicht wahr! Du willst mich bloß loswerden, damit du wieder hier alleine der Star der Schule sein kannst.“
Aber nein“, versuchte er zu widersprechen, doch Marina ließ ihn nicht zu Wort kommen:
Deine Zeiten sind vorbei, kapiere das doch endlich. Du bist raus aus der Schule. Geh wieder zurück in deine Uni und lass mich in Ruhe!“
Darum geht es doch garnicht, Marina. Ich will nur nicht, dass du dir etwas antust.“
Marina wurde bei diesen Aussagen noch wütender. So eine Wut hatte sie noch nie in sich gespürt. Eigentlich blieb sie stets ruhig, doch nun war es zu viel. Erst dieser Druck seitens ihres Tutors, dann die Sache mit Robin und nun kam auch noch ihr Bruder ihr in die Quere. Ihr reichte es. Sie stürmte auf ihren Bruder los und stieß ihn gegen die Brust, sodass er nach hinten taumelte.
Lass mich in Frieden“, schrie sie ihn an.
Marina, beruhige dich! Du solltest wirklich mal mit einem Psychologen sprechen.“
Wie bitte?“ Nun rastete sie endgültig aus. Sie hob ihre Hände und beschwor einen Wasserstrahl herbei, den sie auf ihren Bruder schleuderte. Doch bevor er ihn traf, wehrte er den Strahl ab.
Marina“, rief er aus. „Hör auf damit!“ Doch sie war völlig in Fahrt. Sie erschuf einen weiteren Wasserstrahl, der zunächst um sie herum wirbelte und dann mit aller Kraft auf ihren Bruder einprasselte.
Pitschnass erhob er sich vom Boden und konterte mit einem Gegenangriff. Die Wassermassen rissen Marina in die Luft. Sie konnte es nicht verhindern. Mit hohem Bogen wurde sie durch den Hof geschleudert, bis sie auf dem Boden aufschlug und vor Schmerz aufheulte.
Sofort rannte ihr Bruder auf sie zu.
Es tut mir leid, Marina. Hast du dir wehgetan?“
Gerade wollte er ihr aufhelfen, da schlug sie seinen Arm weg und schleuderte erneut einen Wasserstrahl auf ihn. Nun flog Marin nach hinten und donnerte gegen die Wand des Schulgebäudes. Marina rappelte sich auf und beschwor eine Welle, die sie ebenfalls auf ihren Bruder niederprasseln lassen wollte. In diesem Moment wurde das Wasser aber in eine andere Richtung gelenkt. Marina drehte sich um und erblickte Robin.
Was soll das?“
Hör damit auf, Marina! Das hat doch keinen Sinn.“
Robin, das ist eine Sache zwischen meinem Bruder und mir. Das geht dich nichts an.“
Was geht hier vor?“, meldete sich plötzlich eine strenge Stimme. Tiberius von Zimmenthal war gemeinsam mit Marinas Eltern auf den Hof getreten. „Sofort aufhören!“

Einige Augenblicke später befand sich Marina erneut im Büro des Rektors.
Für diesen Vorfall muss ich Sie leider vom Unterricht suspendieren.“
Wie bitte?“
Quinn atmete langsam aus und fuhr sodann fort:
Gehen Sie mit Ihren Eltern nach Hause und klären sie zunächst Ihre gesundheitliche Verfassung. Sie dürfen die Schule eine Woche lang nicht betreten.“
Marina war entsetzt bei diesen Worten, aber sie sah ihren Eltern die Erleichterung an. Sie freuten sich darauf, dass sie ihre Tochter mitnehmen durften. Nun hatte Marin erreicht, was er wollte. Das Mädchen war stinksauer auf ihren Bruder. Aber sie konnte nun nichts mehr machen und musste wohl oder übel mit ihren Eltern zurück nach Hamburg gehen.
Sie durfte gerade noch eine Tasche packen und dann stieg sie auch schon in das Auto ihrer Eltern. Im Rückspiegel konnte sie sehen, dass Robin am Schultor stand und ihr nachblickte.

Robin war auch sauer auf Marin und so suchte er ihn auf. Er saß in seinem Zimmer auf seinem Bett, trug einen Bademantel und trocknete sich die Haare ab.
Für einen kurzen Augenblick musste der Sechzehnjährige grinsen.
Endlich sind seine Haare mal gewaschen.
Doch sofort fing er sich wieder und wurde ernst:
Was sollte das, Marin?“
Was meinst du?“
Du hast deinen Eltern erzählt, Marina hätte Selbstmordgedanken, weil sie einen derartigen Songtext geschrieben hat.“
Bei diesen Zeilen muss man doch davon ausgehen. Ich fand das sehr schlimm.“
Sie hat doch nur ein bisschen Stress, dem sie mit dem Lied Luft gemacht hat. Wenn sie Selbstmordgedanken hat, dann haben neunzig Prozent der Popstars solche Gedanken.“
Marina ist kein Popstar“, widersprach Marin ruhig.
Darum geht es doch nicht. Warum tust du ihr das an? Du hättest vorher mit ihr darüber reden sollen, als gleich deine Eltern zu informieren.“
Sogar ein Psychologie-Laie weiß, dass Menschen mit Suizidgedanken alles abstreiten, wenn man sie darauf anspricht. Da muss sofort jemand Professionelles eingeschaltet werden.“
Das ist doch nicht wahr. Marina hat keine Suizidgedanken. Sie ist lediglich ein emotionaler Mensch, der seine Gefühle in der Musik ausdrückt.“
Marin schüttelte den Kopf und ging garnicht mehr auf Robin ein. Er stand einfach auf und verschwand im Badezimmer.
Was soll das jetzt?“, fragte Robin nach. Da hörte er den Fön. Marin hatte ihn einfach stehen lassen. Anscheinend konnte man mit ihm nicht reden.
Sauer verließ das Elementum wieder das Zimmer und ging zurück in sein eigenes. Dort erzählte er Iggy, was vorgefallen war.
Das gibt es doch nicht“, rief der Rotschopf entsetzt. „Marin hat sie doch nicht mehr alle.“
Das kannst du laut sagen. Arme Marina...“