Am nächsten Tag würdigte
Marina Robin keines Blickes. Sie grüßte ihn nicht und ignorierte
ihn, was ihm Kummer bereitete. Dafür war Aria ihm gegenüber
besonders fröhlich. Sie freute sich ungemein auf die Verabredung und
sprach unentwegt davon. Sie überlegte, in welche Disko sie gehen
würden, was Robin nicht im Geringsten interessierte. Lieber würde
er die Zeit mit Marina verbringen.
Da geschah es. Mitten im
Mathematik-Unterricht von Frau Funke kam Herr von Zimmenthal in den
Klassenraum und bat Marina hinaus. Robin ahnte Schreckliches, aber er
konnte ihr ja schlecht nachgehen.
Marina wurde von ihrem
Tutor in das Büro des Rektors gerufen, wo nicht nur Herr Quinn an
seinem Schreibtisch saß, sondern auch ihre Eltern.
„Mama?
Papa? Was macht ihr denn hier?“
„Wir
machen uns Sorgen um dich, mein Schatz“, antwortete Muriel mit
einem traurigen Blick in den Augen.
„Was
ist los?“, wollte das Mädchen wissen.
Herr Quinn hielt ein
Blatt Papier in die Höhe. Sofort erkannte Marina es als ihren
Songtext. Verwundert schaute sie den Rektor an.
„Ist
das von Ihnen?“, fragte er ruhig.
„Ja,
das ist mein Text.“
„Oh
mein Gott“, rief Muriel aus und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Wieso?“,
hakte die junge Wasser-Elementarstin nach.
Quinn versuchte das Ganze
sehr sachlich zu regeln:
„Ihre
Eltern machen sich in gewisser Weise Sorgen um Sie. Der Text klingt
nach suizidalen Gedanken.“
„Wie
bitte?“ Marina dachte, sie hörte nicht richtig.
„Wir
möchten, dass du mit uns nach Hause kommst“, sprach nun ihr Vater
mit ruhiger, aber fester Stimme.
„Was?
Wieso das denn?“
„Wir
möchten, dass du mit jemanden darüber sprichst.“
„Was
soll der Unsinn? Ich habe keine Selbstmordgedanken. Wer erzählt euch
denn diesen Unfug und von wem habt ihr überhaupt meinen Text?“
„Marin
hat ihn uns gestern gezeigt“, war Muriels Antwort, welche sie mit
einem Zittern in der Stimme gab.
„Marin?“
Das Mädchen spürte, wie eine Wut in ihr aufstieg. Das durfte doch
nicht wahr sein. Ihr Bruder hatte das verzapft.
„Er
macht sich doch bloß auch nur Sorgen um dich“, erklärte Marius
weiter.
„Das
ist doch Blödsinn“, widersprach sie. „Mir geht es gut und ich
bleibe hier.“
„Liebes“,
flehte Muriel, „bitte komm mit uns und spreche mit Doktor Elbers.“
Marina kannte den Namen.
Es war ein Studienkollege ihres Vaters, der sich auf Psychologie
spezialisierte. Ihre Eltern wollten sie zum Psychologen schicken. Sie
schüttelte nur den Kopf, drehte sich um und rannte aus der Tür.
„Marina!“,
schrie ihre Mutter noch, aber das Mädchen war weg.
Sie rannte so schnell sie
konnte. Sie war stinksauer auf ihren Bruder. Wie konnte er ihr nur so
etwas antun? Was bezweckte er damit? Wollte er sie loswerden?
Das Mädchen musste nicht
weit gehen. Auf dem Schulhof lief sie ihrem Bruder quasi in die Arme.
Ohne große Umwege, schrie sie ihn an:
„Was
soll das, Marin?“
„Was
meinst du?“, fragte er unschuldig.
„Was
erzählst du unseren Eltern? Sie denken jetzt, ich bin
selbstmordgefährdet. Du weißt ganz genau, dass das nicht wahr ist.“
„Aber
Schwesterherz, dein Text klingt so depressiv. Ich habe mir Sorgen um
dich gemacht.“
„Das
ist doch nicht wahr! Du willst mich bloß loswerden, damit du wieder
hier alleine der Star der Schule sein kannst.“
„Aber
nein“, versuchte er zu widersprechen, doch Marina ließ ihn nicht
zu Wort kommen:
„Deine
Zeiten sind vorbei, kapiere das doch endlich. Du bist raus aus der
Schule. Geh wieder zurück in deine Uni und lass mich in Ruhe!“
„Darum
geht es doch garnicht, Marina. Ich will nur nicht, dass du dir etwas
antust.“
Marina wurde bei diesen
Aussagen noch wütender. So eine Wut hatte sie noch nie in sich
gespürt. Eigentlich blieb sie stets ruhig, doch nun war es zu viel.
Erst dieser Druck seitens ihres Tutors, dann die Sache mit Robin und
nun kam auch noch ihr Bruder ihr in die Quere. Ihr reichte es. Sie
stürmte auf ihren Bruder los und stieß ihn gegen die Brust, sodass
er nach hinten taumelte.
„Lass
mich in Frieden“, schrie sie ihn an.
„Marina,
beruhige dich! Du solltest wirklich mal mit einem Psychologen
sprechen.“
„Wie
bitte?“ Nun rastete sie endgültig aus. Sie hob ihre Hände und
beschwor einen Wasserstrahl herbei, den sie auf ihren Bruder
schleuderte. Doch bevor er ihn traf, wehrte er den Strahl ab.
„Marina“,
rief er aus. „Hör auf damit!“ Doch sie war völlig in Fahrt. Sie
erschuf einen weiteren Wasserstrahl, der zunächst um sie herum
wirbelte und dann mit aller Kraft auf ihren Bruder einprasselte.
Pitschnass erhob er sich
vom Boden und konterte mit einem Gegenangriff. Die Wassermassen
rissen Marina in die Luft. Sie konnte es nicht verhindern. Mit hohem
Bogen wurde sie durch den Hof geschleudert, bis sie auf dem Boden
aufschlug und vor Schmerz aufheulte.
Sofort rannte ihr Bruder
auf sie zu.
„Es
tut mir leid, Marina. Hast du dir wehgetan?“
Gerade wollte er ihr
aufhelfen, da schlug sie seinen Arm weg und schleuderte erneut einen
Wasserstrahl auf ihn. Nun flog Marin nach hinten und donnerte gegen
die Wand des Schulgebäudes. Marina rappelte sich auf und beschwor
eine Welle, die sie ebenfalls auf ihren Bruder niederprasseln lassen
wollte. In diesem Moment wurde das Wasser aber in eine andere
Richtung gelenkt. Marina drehte sich um und erblickte Robin.
„Was
soll das?“
„Hör
damit auf, Marina! Das hat doch keinen Sinn.“
„Robin,
das ist eine Sache zwischen meinem Bruder und mir. Das geht dich
nichts an.“
„Was
geht hier vor?“, meldete sich plötzlich eine strenge Stimme.
Tiberius von Zimmenthal war gemeinsam mit Marinas Eltern auf den Hof
getreten. „Sofort aufhören!“
Einige Augenblicke später
befand sich Marina erneut im Büro des Rektors.
„Für
diesen Vorfall muss ich Sie leider vom Unterricht suspendieren.“
„Wie
bitte?“
Quinn atmete langsam aus
und fuhr sodann fort:
„Gehen
Sie mit Ihren Eltern nach Hause und klären sie zunächst Ihre
gesundheitliche Verfassung. Sie dürfen die Schule eine Woche lang
nicht betreten.“
Marina war entsetzt bei
diesen Worten, aber sie sah ihren Eltern die Erleichterung an. Sie
freuten sich darauf, dass sie ihre Tochter mitnehmen durften. Nun
hatte Marin erreicht, was er wollte. Das Mädchen war stinksauer auf
ihren Bruder. Aber sie konnte nun nichts mehr machen und musste wohl
oder übel mit ihren Eltern zurück nach Hamburg gehen.
Sie durfte gerade noch
eine Tasche packen und dann stieg sie auch schon in das Auto ihrer
Eltern. Im Rückspiegel konnte sie sehen, dass Robin am Schultor
stand und ihr nachblickte.
Robin war auch sauer auf
Marin und so suchte er ihn auf. Er saß in seinem Zimmer auf seinem
Bett, trug einen Bademantel und trocknete sich die Haare ab.
Für einen kurzen
Augenblick musste der Sechzehnjährige grinsen.
Endlich sind seine
Haare mal gewaschen.
Doch sofort fing er sich
wieder und wurde ernst:
„Was
sollte das, Marin?“
„Was
meinst du?“
„Du
hast deinen Eltern erzählt, Marina hätte Selbstmordgedanken, weil
sie einen derartigen Songtext geschrieben hat.“
„Bei
diesen Zeilen muss man doch davon ausgehen. Ich fand das sehr
schlimm.“
„Sie
hat doch nur ein bisschen Stress, dem sie mit dem Lied Luft gemacht
hat. Wenn sie Selbstmordgedanken hat, dann haben neunzig Prozent der
Popstars solche Gedanken.“
„Marina
ist kein Popstar“, widersprach Marin ruhig.
„Darum
geht es doch nicht. Warum tust du ihr das an? Du hättest vorher mit
ihr darüber reden sollen, als gleich deine Eltern zu informieren.“
„Sogar
ein Psychologie-Laie weiß, dass Menschen mit Suizidgedanken alles
abstreiten, wenn man sie darauf anspricht. Da muss sofort jemand
Professionelles eingeschaltet werden.“
„Das
ist doch nicht wahr. Marina hat keine Suizidgedanken. Sie ist
lediglich ein emotionaler Mensch, der seine Gefühle in der Musik
ausdrückt.“
Marin schüttelte den
Kopf und ging garnicht mehr auf Robin ein. Er stand einfach auf und
verschwand im Badezimmer.
„Was
soll das jetzt?“, fragte Robin nach. Da hörte er den Fön. Marin
hatte ihn einfach stehen lassen. Anscheinend konnte man mit ihm nicht
reden.
Sauer verließ das
Elementum wieder das Zimmer und ging zurück in sein eigenes. Dort
erzählte er Iggy, was vorgefallen war.
„Das
gibt es doch nicht“, rief der Rotschopf entsetzt. „Marin hat sie
doch nicht mehr alle.“
„Das
kannst du laut sagen. Arme Marina...“