Es
gingen wieder einige Tage ins Land. Ruth beschloss, ihr Leben
wieder in den Griff zu bekommen. Sie hatte mittlerweile einen
Termin bei einer Therapeutin, die am Telefon sehr freundlich klang.
Ihre Eltern würden sie zu ihr fahren, doch sie wollte schon mal
vorher versuchen, vor die Tür zu gehen. Ein kleiner Spaziergang war
vorgesehen, bei dem ihre Eltern sie natürlich auch begleiteten.
Was die Arbeit betraf, hatte sie mit
ihrem Chef in der Bäckerei gesprochen. Sie würde das komplette
Jahr aussetzen und dann wieder im zweiten Jahr einsteigen. Bis dahin
hatte sie Zeit, sich zu fangen. Das waren gute Aussichten.
Ihr nächstes Ziel war Tobias. Ihm
wollte sie auch näher kommen. Derzeit beschränkte sich ihre
Kommunikation auf die SMS. Sie hatte sich nicht mehr getraut, ihn
morgens einzuladen, wenn die Eltern arbeiten waren. Aber er fragte
auch nicht danach. In dieser Hinsicht war er ein absoluter Gentleman,
der ihr tatsächlich alle Zeit ließ, die sie brauchte. Das sorgte
dafür, dass sie sich noch mehr in ihn verliebte.
In einer Nacht hielt sie es nicht mehr
aus. Sie musste die ganze Zeit an ihn denken. Er ging ihr nicht mehr
aus dem Kopf – und besonders schwer war es, weil sie wusste, dass
er auf der anderen Seite ihrer Zimmerwand war. Sie verspürte
Sehnsucht. Und daher musste sie handeln.
Es war etwa drei Uhr in der Nacht.
Ihre Eltern schliefen selig. Sie kramte eine große Wolldecke aus
ihrem Schrank und schlich leise aus ihrem Zimmer. Als sie im Hausflur
war, zog sie ganz leise die Tür hinter sich zu. Als sie vor der
Wohnung ihres Nachbarn stand, überkam sie kurz die Angst. Doch sie
schüttelte sie schnell ab. Sie dachte nur an Tobias und wollte, dass
er sie in den Arm nahm.
Sie stellte sich an die Tür und
klopfte. Wieder verwendete sie ihr gemeinsames Klopfzeichen: Fünfmal
kurz und zweimal lang. Sie wartete. Es passierte nichts. Vielleicht
schlief er. Sie versuchte es noch einmal, aber es tat sich immer noch
nichts. Vielleicht schlief er.
Mist!
Was sollte sie nun tun? Sie überlegte
zu klingeln, aber das wäre zu laut gewesen. Wenn er schlief,
wollte sie ihn nicht wecken. Schweren Herzens beschloss sie,
wieder zurück ins Bett zu gehen. Da öffnete sich die Tür und
sie blickte in die Augen ihres Polizisten.
„Tobias“, rief
sie leise, aber glücklich aus.
„Was machst du
denn mitten in der Nacht hier?“
„Ich vermisse
dich!“
Er strahlte bei diesen Worten.
„Magst du
reinkommen?“
Sie zögerte, doch dann streckte er
ihr seine Hand entgegen. Sie packte zu und er führte sie in die
Wohnung. Sie gingen zusammen ins Schlafzimmer. Das kannte sie
bisher noch nicht.
„Hier schläfst
du?“
„Na ja“,
antwortete er, „ob ich auf der Couch oder gleich in seinem Bett
schlafe, ist egal. Ich habe mein eigenes Bettzeug mitgebracht und
dann geht das schon. Und hier im Schlafzimmer bin ich dir nahe, denn
du bist auf der anderen Seite der Wand.“
Trotz dass sie sich geschmeichelt
fühlte, blieb sie starr stehen.
„Fühlst du dich
hier nicht wohl?“
„Können wir ins
Wohnzimmer gehen? Ich habe eine Decke mitgebracht. Die können wir
auf dem Boden auslegen.“
„Du möchtest
nicht mit seinen Sachen in Berührung kommen. Das kann ich
verstehen.“
Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer,
wo alles so war, wie sie es das letzte Mal vorgefunden hatte.
Sie legten die Decke auf den Boden und setzten sich im Schneidersitz
darauf. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er nur ein weißes Shirt und
Boxershorts anhatte.
„Warum starrst du
mich so an?“, fragte er schließlich mit einem breiten Grinsen im
Gesicht.
„Du siehst gut
aus“, gab sie neckend zurück.
„Ich freue mich,
dass du hier bist. Ich weiß ja, wie schwer es dir fällt.“
„Solange du bei
mir bist und mich festhältst, geht es schon.“
„Du willst, dass
ich dich festhalte?“, fragte er ungläubig.
Anstatt zu antworten, nahm sie seine
Arme und zog ihn zu sich. Zaghaft erwiderte er ihre Umarmung. Er
drückte sie an seine Brust. Sie hörte sein Herzklopfen. Sie
verharrten in dieser Position. Diesmal war alles perfekt. Er
machte keinen Versuch, weiterzugehen als sie wollte. Auch so war er
sehr zufrieden. Für einen kurzen Augenblick waren beide sehr
glücklich.