Immer
wieder bekam Ruth SMS und Emails von ihren Freunden, die sie meistens
ignorierte. Sie schämte sich, ihnen vor die Augen zu treten. Dass
sich Vergewaltigungsopfer oft schämen, davon hatte sie früher schon
gehört. Sie fand das lächerlich, da sie davon überzeugt war, dass
die Opfer ja nichts dafür konnten und sich daher nicht schämen
müssten. Doch jetzt war sie selbst in dieser Situation und fühlte
auch so. Nur gegenüber Tobias war es anders.
Ihn lernte sie kennen, als es gerade
passiert war. Als er sie zum ersten Mal sah, war sie fast komplett
nackt und blutüberströmt. Vor ihm musste sie sich nicht
verstecken, denn er war quasi live dabei. Und obwohl sie ihn noch
nicht so lange kannte, vertraute sie ihm.
Daher freute sie sich, als sie am
nächsten Morgen eine SMS von ihm bekam:
Guten Morgen! Wie geht es dir?
Besser. Danke. Ich verstehe es
immer noch nicht und ich mache mir viele Gedanken, aber es geht schon
wieder.
Magst du mit mir darüber
sprechen? Wollen wir telefonieren?
Komm rüber. Meine Eltern sind
sowieso arbeiten.
Das ließ sich der junge Polizist
nicht zweimal sagen und so stand er ein paar Minuten später in ihrer
Wohnung.
„Danke für die
erneute Einladung“, lächelte er.
„Magst du mit mir
frühstücken?“
„Ein Kaffee wäre
gut.“
Gemeinsam gingen sie in die Küche. Er
setzte sich an den Tisch, während Ruth die Kaffeemaschine
anschmiss.
„Das war ein
Schock gestern Abend, nicht wahr?“, sprach er das Thema vorsichtig
an.
„Und wie“,
bestätigte die Achtzehnjährige. „Das hat mich völlig verwirrt.
Aber andererseits ist es gut, dass ich mehr weiß. Dann habe ich was
zum Verarbeiten.“ Sie drehte sich um und zwinkerte dem jungen Mann
zu, der da so in ihrer Küche saß. Er lächelte zurück.
Als sie ihm den Kaffeebecher
hinstellte, schaute sie ihn fragend an.
„Was ist?“,
wollte er wissen. „Habe ich einen Pickel auf der Nase?“
„Nein“, gab sie
zurück. „Ich frage mich nur, wie alt du bist.“
„Dann frag mich
doch einfach. Ich bin 29.“
„Ui“, verhöhnte
sie ihn, „schon so alt.“
„Hey“, meckerte
er gespielt, „so alt bin ich noch nicht.“
Er ahnte schon, warum sie ihn das
fragte. Er selbst fand den Altersunterschied zwischen ihnen beiden
auch ziemlich groß. Elf Jahre lwaren das.
„Alter spielt
aber keine Rolle“, bestimmte sie schließlich. Das fand Tobias gut
und da musste er lächeln. „Darf ich dir was zeigen?“, fragte sie
ihn sodann.
„Natürlich.“
„Dann folge mir.“
Sie nahm ihn mit in ihr Zimmer und bat
ihn, sich auf ihr Bett zu setzen. Dann kramte sie in der Schublade
ihres Schreibtisches. Sie zog ein Buch heraus. Es war nicht sehr
dünn, hatte aber ein großes Format.
Tobias las den Titel vor:
„Ruths
Backrezepte. Ach, das hast du dir drucken lassen?“, fragte er
erstaunt.
„Nein, das war
meine Oma. Das sind ihre Rezepte. Sie hieß ebenfalls Ruth.“
„War sie auch
Bäckerin?“, wollte er wissen.
„Nein, aber sie
backte privat für ihr Leben gern. Sie brachte es mir auch bei.“
„Da hat sie dir
ja ein wunderbares Talent weitergegeben. Ich habe den Kuchen,
den du gestern drüben auf der Kommode stehen lassen hast, probiert.
Fantastisch.“
Ruth errötete.
„Danke!“
Dann blätterte sie durch das
Kochbuch. Überall waren Rezepte für verschiedene Backwaren. Sogar
ein Foto war immer dabei. Auf der letzten Seite war dann ein Foto
ihrer Großmutter abgebildet. Da war sie noch etwas jünger und
hatte hellblondes Haar. Es schien gefärbt zu sein. Sie strahlte
über beide Ohren.
„So war meine
Oma“, erklärte Ruth. „Sie war immer gut drauf und hatte immer
ein Lächeln im Gesicht.“
„Du vermisst sie
sehr, nicht wahr?“
Ruth stiegen die Tränen in die Augen.
Und wie sie ihre geliebte Großmutter vermisste. Sie würde sie
niemals mehr so lächeln sehen. Das war die Hölle für sie.
Behutsam nahm Tobias die
Achtzehnjährige in die Arme. Ruth genoss diesen Augenblick und
seine Wärme. Sie ließ es zu. Irgendwann blickte sie auf und
schaute in sein Gesicht. Tobias schaute ihr ebenfalls in die Augen.
In dieser Position verharrten sie ein paar Sekunden. Schließlich
kamen sich ihre Gesichter näher und ihre Lippen trafen sich.
Tobias drückte Ruth näher an sich
und ihr Kuss wurde energischer. Auch sie zog ihn näher an sich
heran. Ein Gefühl des Glücks durchströmte sie. Irgendwann
griff er automatisch am Rücken unter ihr Shirt.
Da zuckte sie zusammen und löste sich
sofort von ihm. Sie sprang auf und stand da wie erstarrt.
„Das tut mir
leid“, rief er sofort entschuldigend. „Das wollte ich nicht.“
Doch Ruth reagierte nicht, sondern
starrte ihn nur weiterhin entsetzt an. Da stand er auf und sie zuckte
erneut zusammen.
„Entschuldige
bitte“, wiederholte er. „Das war wahrscheinlich etwas zu schnell.
Ich gehe jetzt besser.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er
aus dem Zimmer und wenige Sekunden später hörte Ruth, wie die
Haustür zufiel.