Vor
der Tür ihres verhassten Nachbarn atmete Ruth noch einmal kräftig
durch. Sie spürte, wie die Angst wieder in ihr aufkam, doch sie
wollte diesmal nicht zurückschrecken. Sie nahm sich vor,
durchzuhalten und es vor allem durchzuziehen. Sie musste es ihren
Eltern beweisen. Sie musste es sich selbst beweisen.
Wenn sie es nicht schaffen würde,
hatte Wolff ihr komplettes Leben zerstört. Er nahm bereits ihre
Unschuld. Er nahm ihr ihre geliebte Großmutter. Aber er nahm
ihr nicht das Leben. Das versprach sie sich in diesem Augenblick
und dann klopfte sie an. Fünfmal kurz und zweimal lang.
Einen Moment später öffnete Tobias
die Tür.
„Alles in
Ordnung?“, fragte er besorgt nach.
„Ich habe dir
einen Kuchen gebacken“, sagte sie mit angestrengter Freundlichkeit.
Der Polizist guckte sie verdutzt an.
„Dann komm rein“,
bat er sie lächelnd. Aber Ruth spürte seine Skepsis.
Sie holte erneut tief Luft. Dann
betrat sie die Wohnung. Mit einem Schritt stand sie drin. Zaghaft
blickte sie umher. Sie traute sich zunächst nicht, die Kommode
anzuschauen. Doch dann tat sie es einfach und bemerkte, dass das Foto
nicht mehr da war. Sie stellte den Teller mit dem Kuchen stattdessen
auf der Kommode ab. Dann schaute sie Tobias an und fragte:
„Hilfst du mir?“
„Natürlich“,
antwortete er sofort und nahm sie unter die Arme. Sie hielt ihn ganz
fest. Mit seiner Hilfe betrat sie das erste Zimmer. Es war das
Wohnzimmer, in dem sie bereits das Sofa gesehen hatte. Sie
schaute sich um. Es war ein ganz normales Wohnzimmer. Zwar ein wenig
bieder eingerichtet, aber es war nichts Besonderes. Gegenüber
des Sofas hing ein Flachbildfernseher an der Wand. Darum war eine
dunkelbraune Wohnwand aufgebaut. Rechts daneben ging es zum
Balkon. Die Vorhänge waren weiß und mit einem gestickten
Blumenmuster. Das sah ziemlich weiblich aus, fand Ruth. Der
Wohnzimmertisch war aus Glas und sehr schlicht. Ein dunkelbrauner
Massagesessel aus Leder stand ebenfalls daneben.
Die Tapete war weiß, aber Ruth
merkte, dass sie schon ein wenig vergilbt war. An einigen Stellen
sah man die Abdrücke von Bilderrahmen. Tobias bemerkte, dass es
Ruth aufgefallen war.
„Wie versprochen,
habe ich alle Fotos abgehängt“, erklärte er.
Sie ließ von dem Polizisten ab und
machte allein ein paar Schritte zur Wohnwand. Auf der einen
Seite war eine Vitrine, in der sich Gläser, aber auch ein paar
wenige Porzellanfiguren befanden. Katzen. Die Achtzehnjährige
fand diese Normalität seltsam. Auf der anderen Seite standen
ein paar Bücher auf dem Regalbrett. Sie entdeckte die Romane von Dan
Brown. Doch da waren auch ein paar Kinderbücher. Pipi Langstrumpf
und das Sams.
Ruth wunderte sich. Kinderbücher?
Warum hatte Herr Wolff Kinderbücher?
Tobias trat an sie heran und sprach
leise:
„Er hatte eine
Tochter.“
Überrascht zog sie ihre Augenbrauen
nach oben. Das konnte sie nicht glauben.
„Wie bitte?“,
fragte sie ungläubig.
„Das haben meine
Kollegen und ich herausgefunden. Er hatte eine Tochter. Isabel
hieß sie. Er wurde recht jung Vater, er war damals gerade
volljährig geworden, aber die Beziehung zu seiner damaligen
Freundin hielt nicht lange an. Aber seine Tochter liebte er wohl
sehr, denn er besuchte sie regelmäßig in Frankfurt.
In Frankfurt?
Ruth traf es wie ein Schock. Es haute
sie völlig von den Socken. Fast verlor sie das Gleichgewicht,
doch Tobias hielt sie fest.
„Soll ich lieber
damit aufhören?“
„Nein“,
antwortete sie sofort. „Sprich weiter. Ich will alles wissen.“
Also erzählte er von Anfang an:
„Kevin Wolff
wurde mit 18 Jahren Vater. Seine damalige Freundin war seine
Jugendliebe. Sie hatten es nicht geplant, aber sie wurde trotzdem
schwanger. Ihre Beziehung hielt nicht mal bis zur Geburt von ihrer
Tochter Isabel. Seine Exfreundin heiratete wenige Jahre später einen
Türken, den sie im Internet kennenlernte. Sie zog zu ihm nach
Frankfurt. Da Wolff aber seine Arbeitsstelle hier gefunden hatte,
besuchte er seine Tochter regelmäßig in Frankfurt. Manchmal
kam Isabel aber auch nach Hamburg. Daher auch die Kinderbücher.“
„Du sprichst von
Isabel in der Vergangenheit“, wunderte sich Ruth.
„Ja. Das Mädchen
bekam mit zwölf Jahren Leukämie und starb daran. Das nahm Wolff
sehr mit und ich befürchte, dass er damit bis heute nicht
klargekommen ist.“
„Lass mich
raten“, sprach Ruth mit Bitterkeit in der Stimme, „sie ist in
Frankfurt begraben und er sucht regelmäßig ihr Grab auf.“
„Du hast ins
Schwarze getroffen“, bestätigte er.
Ruth spürte kein Mitleid mit dem
Mädchen. Sie dachte nur daran, dass ihr Tod ihrem Vergewaltiger
sehr wehgetan haben musste und das empfand sie als kleine
Genugtuung.
„Vielleicht
solltest du dich setzen“, empfahl Tobias Ruth, doch sie wollte
unter keinen Umständen auch nur etwas in dieser Wohnung
anfassen. Daher lehnte sie ab:
„Es geht schon“,
versicherte sie.
„Dann mach dich
aber bitte auf etwas gefasst. Es wird dich sicherlich treffen.“
„Ich schaffe das
schon. Erzähl!“ Sie konnte ihre Ungeduld kaum verbergen.
„Also gut“,
seufzte der Polizist und berichtete weiter. „Kurz nach dem Tod
seiner Tochter bist du mit deiner Familie in die Wohnung nebenan
gezogen.“
Ruth erschrak. Sie ahnte etwas.
Damals war ich zwölf.
„Darf ich dich
fragen, ob dir jemals etwas aufgefallen ist?“
Ruth dachte angestrengt nach.
Tatsächlich kamen ihr jetzt ein paar Erinnerung. Zum Geburtstag
und zu Weihnachten lag immer ein Spielzeug vor der Haustür. Wenn sie
Wolff im Hausflur begegnet war, war er stets unheimlich freundlich zu
ihr, aber sie sah ihn nur als Nachbarn an und hielt die Gespräche
mit ihm meist sehr kurz. Mehr als ein 'Guten Tag' schenkte sie ihm
nicht.
„Heute wäre
Isabel ebenfalls 18 Jahre alt“, fuhr Tobias mit seinen Ausführungen
fort.
„Meinst du, das
steht irgendwie in Zusammenhang?“, hakte sie nach.
„Ich bin kein
Psychologe, aber ich befürchte, er hat irgendwas auf dich
projiziert, was du nicht erfüllen konntest. Und dadurch ist er
irgendwann durchgedreht.“
Ruth fing zu zittern an. Ihr lief es
eiskalt den Rücken hinunter. Sie konnte nicht glauben, was sie da
gerade hörte.
„Das ergibt doch
keinen Sinn“, hauchte sie schließlich angestrengt. „Ich verstehe
das nicht.“
Tobias nahm sie in den Arm und hielt
sie fest. Er sprach ruhig auf sie ein:
„Alles wird gut.
Beruhige dich. Ich bin bei dir.“
„Ich verstehe das
nicht“, schluchzte sie. Ihr stiegen die Tränen in die Augen.
„Wenn er doch seine Tochter irgendwie in mir sah, wie konnte er mir
das nur antun?“
„Da bin ich auch
überfragt“, antwortete ihr der Polizist. „Vielleicht hat er
irgendwann gemerkt, dass das nicht klappt. Dass du nicht seine
Tochter bist und es auch nie sein wirst. Und dann ist er völlig
durchgeknallt.“
„Und dann bin ich
ihm im Zug über den Weg gelaufen und war das erste Mal freundlich zu
ihm. Ich begreife das immer noch nicht.“
„Das muss man
vielleicht auch gar nicht. Darum sollen sich Psychologen kümmern.“
Ruth löste sich von Tobias und
wischte sich die Tränen ab. Dann sagte sie:
„Vielen Dank,
Tobias. Ich muss das erst einmal sacken lassen. Bringst du mich bitte
zur Tür.“
„Selbstverständlich.“
Ruth verabschiedete sich von ihm und
ging zurück zu ihren Eltern. Diese erwarteten sie schon und
wollten wissen, wie es ihr ging. Doch Ruth bat sie darum, sie
zunächst allein zu lassen. Dann ging sie in ihr Zimmer und legte
sich ins Bett.