„Wir
müssen mit dir reden“, forderte der Vater Ruth auf. „Kommst du
bitte ins Wohnzimmer.“
Sie ahnte schon, was sie erwartete und
hatte keine Lust auf das folgende Gespräch. Widerwillig stieg sie
aus dem Bett. Als sie das Wohnzimmer betrat, saßen ihre Eltern schon
nebeneinander auf dem Sofa.
„Bitte setz
dich“, sagte der Vater und zeigte auf den Sessel, der ihnen
gegenüber stand. Ruth seufzte und nahm Platz.
„Liebes“,
begann ihre Mutter, „wir machen uns große Sorgen um dich. Du bist
nur noch in der Wohnung und gehst gar nicht mehr vor die Tür. Du
bist schon ganz blass.“
„Mir geht es
gut“, war ihre knappe Antwort. Was ihren Körper betraf, stimmte
das ja auch. All ihre Verletzungen waren geheilt. Sogar der Aidstest,
den sie machen ließ, war negativ. Durch die Vergewaltigung war
ihr keine schreckliche Krankheit übertragen worden.
„So geht das
nicht weiter“, fuhr der Vater mit ernster Stimme fort. „Dein Chef
wird dir nicht ewig deine Stelle freihalten. Bald bekommst du die
Kündigung.“
„Ich bin doch
krank geschrieben“, versuchte die Achtzehnjährige einzuwenden.
„Das wird dir
nichts nützen“, widersprach der Vater.
„Jedenfalls“,
lenkte die Mutter ein, „haben wir uns etwas überlegt. Du musst
dringend eine Therapie machen. Das wird dir sicherlich helfen.“
Ruth wusste nicht, was sie entgegnen
sollte. Ihre Eltern hatten ja recht, aber wie sollte sie zu einem
Psychologen gehen, wenn sie sich nicht traute, die Wohnung zu
verlassen.
„Wir begleiten
dich auch dahin“, versprach der Vater.
Ruth blieb ganz ruhig und senkte ihren
Kopf. Sie konnte es ja schlecht ablehnen. Ihre Eltern wollten ja
schließlich nur das Beste für sie. Schließlich sagte sie:
„Einverstanden.
Ich werde eine Therapie machen. Aber bitte gebt mir noch ein
paar Tage Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen.“
Ihre Eltern schauten sie skeptisch an.
„Drei Tage“,
schlug Ruth vor. „Ist das in Ordnung? In drei Tagen machen wir
einen Termin mit einem Therapeuten.“
Ihre Eltern schauten sich gegenseitig
an und dann nickten sie ihrer Tochter sanft zu. Daraufhin war sie
entlassen und sie konnte zurück auf ihr Zimmer gehen.
Dann dachte sie über die
bevorstehende Therapie nach. Dass es soweit kommen würde, hatte
sie zu verdrängen versucht. Sie dachte, sie könnte es alleine
schaffen. Aber sie war wohl gescheitert. Und das nur, weil sie die
Panik überkommen hatte, als sie in die Wohnung von ihrem
Vergewaltiger und den Mörder ihrer Großmutter geschaut hatte. Sie
fasste einen weiteren Beschluss. Sie nahm ihr Handy zur Hand und
schrieb eine Nachricht an Tobias.
Ich will es noch einmal
versuchen.
Bist du dir sicher?
Ja, ganz sicher. Du könntest mir
nur einen Gefallen tun. Bitte stelle alle Bilder von ihm weg. Ich
kann sein Gesicht nicht sehen.
Einverstanden. Wann willst du es
versuchen?
Noch heute Abend.
So schnell? Und was sagen deine
Eltern dazu?
Lass das meine Sorge sein. In
ungefähr zwei Stunden klopfe ich an deine Tür.
Dann ging die Achtzehnjährige in die
Küche und fing zu backen an. Ihre Mutter kam dazu und schaute ihre
Tochter verwundert an.
„Was hast du
vor?“
„Ich backe einen
Kuchen.“
„Das ist eine
hervorragende Idee. Du hast lange nicht mehr gebacken. Das wird
dich ablenken.“
Darauf ging Ruth nicht ein. Sie wollte
noch nicht offenbaren, warum sie den Kuchen backen wollte. Das hob
sie sich für später auf.
Als der Kuchen fertig war, kam auch
ihr Vater in die Küche.
„Hmm, das duftet
aber gut. Ist das ein Marmorkuchen?“
„Schokolade“,
korrigierte ihn Ruth.
„Lecker. Bekommen
deine Mutter und ich ein Stück davon ab?“, fragte er lächelnd.
„Er ist für
Herrn Jäger.“
„Dem
Polizisten?“, hakte er nach.
„Richtig“,
bestätigte Ruth. „Ich bringe ihm den Kuchen gleich rüber.“
„Wie bitte?“
Der Vater dachte, er hätte sie verhört. „Du willst in die
Wohnung von Herrn Wollf?“
„Ich möchte mich
bei Herrn Jäger für seine Mühe bedanken.“
„Ich finde, das
ist keine gute Idee.“ Er machte einen besorgten Eindruck. Da stand
auch schon die Mutter in der Küche und fragte nach:
„Was ist denn
hier los?“
„Ruth möchte
Herrn Jäger den Kuchen vorbeibringen.“
„Was?“ Ihre
Mutter war schockiert. „Das ist nicht dein ernst.“
„Mama, das ist
nur eine Wohnung. Sie wird mir nichts tun. Mach dir keine Sorgen.“
„Erst kommst du
nicht mehr aus deinem Zimmer raus und jetzt willst du gleich in
die Höhle des Löwen.“
„Aber der Löwe
ist nicht zuhause. Also ist es völlig ungefährlich.“
„Nein“, griff
ihr Vater ein. „Überlege dir das bitte noch einmal.“
„Papa, ich bin 18
Jahre alt. Ich schaffe das schon.“
„Sollen wir dich
begleiten?“, fragte ihre Mutter nach. Dabei klang sie ziemlich
verzweifelt.
„Nein, Herr Jäger
ist doch da. Also macht euch bitte keine Sorgen.“
Eigentlich hatte Ruth gehofft, dass
sie dank des Kuchens diesem Gespräch entging. Doch trotzdem
musste sie sich rechtfertigen. Darauf hatte sie keine Lust.
Schließlich richtete sie den Kuchen auf einem Teller an und machte
sich auf den Weg. Ihre Eltern ließ sie ratlos in der Küche zurück.