[Er wartet auf dich] Kapitel 20

Tobias half Ruth dabei, den Tisch abzuräumen, als sie mit dem Frühstücken fertig waren. Die Acht­zehnjährige war ganz aufgeregt, aber nicht im po­sitiven Sinne. Sie hatte Angst.
Du zitterst ja“, bemerkte der Polizist.
Ich habe Angst.“
Bist du dir dann ganz sicher, dass du es durch­ziehen willst? Ich meine, wir können es auch nochmal verschieben.“
Ich bin mir sehr sicher. Jetzt oder nie“, be­stimmte sie.
Gemeinsam verließen sie die Wohnung. Schon im Hausflur zu stehen, kostete sie Kraft. Am liebs­ten hätte sie sich in ihrem Bett unter ihrer Decke verkrochen. Aber es gab für sie kein Zurück mehr. Tobias schaute sie noch mal fragend an, ob er auch wirklich die Tür zu Herrn Wolffs Wohnung aufsperren sollte. Mit einem Nicken gab sie ihm zu verstehen, dass sie einigermaßen bereit war.
Er drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Ruth schaute auf den Boden und was sie als ers­tes entdeckte, war der hässliche, moosgrüne Tep­pichboden. Tobias zog die Wohnungstür ganz auf, sodass die Achtzehnjährige einen kompletten Blick in die Wohnung hat. Frontal vor ihr eine Wand. Rechts und links waren jeweils eine Tür. Da mussten sich zwei Räume befinden. Vielleicht die Küche und das Badezimmer.

Als sie näher auf die Wohnung zuging, blickte sie von außen in den länglichen Flur. Am Ende von der einen Seite war die Tür offen und da be­fand sich wohl das Wohnzimmer, denn sie blickte von der Seite her auf ein schwarzes Ledersofa. Dann schaute sie zur anderen Seite. Da stand zu­nächst einmal eine Kommode. Auf der Kommode befand sich ein gerahmtes Foto.
Ruths Herz stockte. Sie riss die Augen auf. Er­schrocken blieb sie wie erstarrt stehen. Auf dem Foto war Herr Wolff lächelnd zu sehen. Die Panik übermannte sie. Sie sprang zwei Schritte zurück.
Was ist los?“, fragte Tobias besorgt. „Alles in Ordnung?“
Ohne eine Antwort zu geben, drehte sich Ruth um und rannte zurück in ihr eigenes Heim. Hinter sich schmiss sie die Tür zu. Der junge Polizist wollte ihr folgen, aber die Tür war versperrt. Er klopfte und klingelte.
Ruth!“, rief er. „Was ist los? Brauchst du Hilfe?“
Doch er bekam keine Antwort.
Ruth war in ihr Zimmer gerannt und igelte sich in ihrem Bett ein. Sie hatte große Angst. Ihr war auch unheimlich schlecht. Bei dem Gedanken an das Foto hätte sie brechen können. Sein Gesicht und sein Lächeln ekelten sie an. Schauer liefen ihr eiskalt den Rücken herunter. Sie wollte diesen An­blick sofort wieder vergessen, aber er brannte sich in ihren Kopf ein.
Da klingelte ihr Handy und sie erschrak erneut.
Das ist bestimmt Tobias, dachte sie sich, ließ das Telefon aber einfach klingeln. Sie wollte nicht mit ihm reden. Irgendwie schämte sie sich auch für ihre Reaktion. Wie ein Feigling war sie einfach weggelaufen. Ihr hätte doch gar nichts passieren können. Aber bei dem Anblick des Fotos brannte bei ihr eine Sicherung durch und sie wollte nur noch abhauen. Bei Tieren würde man wohl von Fluchtinstinkt sprechen.
Sie zog die Decke über den Kopf und wollte nur noch vergessen.
Denk nicht mehr daran“, sagte sie zu sich selbst und wiederholte den Satz mehrmals. Wie ein Mantra sprach sie ihn immer und immer wie­der.
Den ganzen Tag bewegte sie sich nicht mehr von der Stelle. Am Abend kamen ihre Eltern nach Hause. Sie durften bloß keinen Verdacht schöp­fen, also richtete sie sich schnell in ihrem Bett auf.
Es klopfte und ihre Mutter kam herein.
Alles in Ordnung, Liebes?“
Ja“, antwortete sie mit einem gespielten Lä­cheln. „Alles gut. Danke, Mama.“
Kann ich dir irgendwas bringen?“, fragte die Mutter noch, aber Ruth schüttelte lediglich den Kopf. Damit schloss die Mutter die Tür wieder und Ruths Anspannung fiel von ihr ab.
Wie blöd bin ich eigentlich?, fragte sie sich selbst. Sie ärgerte sich über sich selbst. War sie wirklich so schwach. Sie nahm ihr Handy in die Hand und tippte eine Nachricht für Tobias:

Mein Verhalten von heute Vormittag tut mir schrecklich leid.

Prompt kam eine Antwort:

Das muss dir nicht leidtun. Geht es dir denn mittlerweile wieder einigermaßen besser.

Ja, alles in Ordnung soweit. Danke dir viel­mals.

Du musst mir nicht danken. Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, wie du mich erreichst.

Du bist ein Schatz!

Die letzte Nachricht hatte sie abgeschickt, ohne darüber nachzudenken. Sofort war sie ihr ein biss­chen peinlich. Hoffentlich empfand er sie nicht für zu aufdringlich. Erneut vibrierte das Handy und Ruth laß die letzte Antwort für diesen Tag:

Danke! :-)