Tobias
half Ruth dabei, den Tisch abzuräumen, als sie mit dem Frühstücken
fertig waren. Die Achtzehnjährige war ganz aufgeregt, aber
nicht im positiven Sinne. Sie hatte Angst.
„Du zitterst ja“,
bemerkte der Polizist.
„Ich habe Angst.“
„Bist du dir dann
ganz sicher, dass du es durchziehen willst? Ich meine, wir
können es auch nochmal verschieben.“
„Ich bin mir sehr
sicher. Jetzt oder nie“, bestimmte sie.
Gemeinsam verließen sie die Wohnung.
Schon im Hausflur zu stehen, kostete sie Kraft. Am liebsten
hätte sie sich in ihrem Bett unter ihrer Decke verkrochen. Aber es
gab für sie kein Zurück mehr. Tobias schaute sie noch mal fragend
an, ob er auch wirklich die Tür zu Herrn Wolffs Wohnung aufsperren
sollte. Mit einem Nicken gab sie ihm zu verstehen, dass sie
einigermaßen bereit war.
Er drehte den Schlüssel um und
öffnete die Tür. Ruth schaute auf den Boden und was sie als erstes
entdeckte, war der hässliche, moosgrüne Teppichboden. Tobias
zog die Wohnungstür ganz auf, sodass die Achtzehnjährige einen
kompletten Blick in die Wohnung hat. Frontal vor ihr eine Wand.
Rechts und links waren jeweils eine Tür. Da mussten sich zwei Räume
befinden. Vielleicht die Küche und das Badezimmer.
Als sie näher auf die Wohnung zuging,
blickte sie von außen in den länglichen Flur. Am Ende von der einen
Seite war die Tür offen und da befand sich wohl das Wohnzimmer,
denn sie blickte von der Seite her auf ein schwarzes Ledersofa. Dann
schaute sie zur anderen Seite. Da stand zunächst einmal eine
Kommode. Auf der Kommode befand sich ein gerahmtes Foto.
Ruths Herz stockte. Sie riss die Augen
auf. Erschrocken blieb sie wie erstarrt stehen. Auf dem Foto war
Herr Wolff lächelnd zu sehen. Die Panik übermannte sie. Sie sprang
zwei Schritte zurück.
„Was ist los?“,
fragte Tobias besorgt. „Alles in Ordnung?“
Ohne eine Antwort zu geben, drehte
sich Ruth um und rannte zurück in ihr eigenes Heim. Hinter sich
schmiss sie die Tür zu. Der junge Polizist wollte ihr folgen, aber
die Tür war versperrt. Er klopfte und klingelte.
„Ruth!“, rief
er. „Was ist los? Brauchst du Hilfe?“
Doch er bekam keine Antwort.
Ruth war in ihr Zimmer gerannt und
igelte sich in ihrem Bett ein. Sie hatte große Angst. Ihr war auch
unheimlich schlecht. Bei dem Gedanken an das Foto hätte sie brechen
können. Sein Gesicht und sein Lächeln ekelten sie an. Schauer
liefen ihr eiskalt den Rücken herunter. Sie wollte diesen Anblick
sofort wieder vergessen, aber er brannte sich in ihren Kopf ein.
Da klingelte ihr Handy und sie
erschrak erneut.
Das ist bestimmt
Tobias,
dachte sie sich, ließ das Telefon aber einfach klingeln. Sie wollte
nicht mit ihm reden. Irgendwie schämte sie sich auch für ihre
Reaktion. Wie ein Feigling war sie einfach weggelaufen. Ihr hätte
doch gar nichts passieren können. Aber bei dem Anblick des Fotos
brannte bei ihr eine Sicherung durch und sie wollte nur noch abhauen.
Bei Tieren würde man wohl von Fluchtinstinkt sprechen.
Sie zog die Decke über den Kopf und
wollte nur noch vergessen.
„Denk nicht mehr
daran“, sagte sie zu sich selbst und wiederholte den Satz mehrmals.
Wie ein Mantra sprach sie ihn immer und immer wieder.
Den ganzen Tag bewegte sie sich nicht
mehr von der Stelle. Am Abend kamen ihre Eltern nach Hause. Sie
durften bloß keinen Verdacht schöpfen, also richtete sie sich
schnell in ihrem Bett auf.
Es klopfte und ihre Mutter kam herein.
„Alles in
Ordnung, Liebes?“
„Ja“,
antwortete sie mit einem gespielten Lächeln. „Alles gut.
Danke, Mama.“
„Kann ich dir
irgendwas bringen?“, fragte die Mutter noch, aber Ruth schüttelte
lediglich den Kopf. Damit schloss die Mutter die Tür wieder und
Ruths Anspannung fiel von ihr ab.
Wie blöd bin
ich eigentlich?,
fragte sie sich selbst. Sie ärgerte sich über sich selbst. War sie
wirklich so schwach. Sie nahm ihr Handy in die Hand und tippte eine
Nachricht für Tobias:
Mein Verhalten von heute
Vormittag tut mir schrecklich leid.
Prompt kam eine Antwort:
Das muss dir nicht leidtun. Geht
es dir denn mittlerweile wieder einigermaßen besser.
Ja, alles in Ordnung soweit.
Danke dir vielmals.
Du musst mir nicht danken. Wenn
du Hilfe brauchst, weißt du, wie du mich erreichst.
Du bist ein Schatz!
Die letzte Nachricht hatte sie
abgeschickt, ohne darüber nachzudenken. Sofort war sie ihr ein
bisschen peinlich. Hoffentlich empfand er sie nicht für zu
aufdringlich. Erneut vibrierte das Handy und Ruth laß die letzte
Antwort für diesen Tag:
Danke! :-)