Bis
Ruth in dieser Nacht wieder eingeschlafen war, hatte es sehr lange
gedauert. Sie stellte sich selbst so viele Fragen und hatte keine
Antworten darauf. Warum war Herr Jäger in der Nachbarwohnung?
Wieso hatte er ihr nicht Bescheid gegeben? Was erhofft sich der
Polizist davon? Und seit wann war so etwas möglich?
All ihre Gedanken verwirrten sie. Aber
seit sie wusste, dass Herr Jäger nebenan war, trug sie auch ein
Gefühl der Sicherheit in sich. Es beruhigte sie ungemein und
verbesserte ihren Gemütszustand um ein Vielfaches.
Am nächsten Morgen beschloss sie,
dass sie mit ihm reden musste. Aber wie? Sie traute sich ja nicht,
einfach mal herüber zu gehen und an die Tür zu klopfen. Die Wohnung
von Herrn Wolff war wie ein rotes Tuch für sie. Obwohl er nicht dort
war, fühlte es sich so an, als ob sie ihm begegnen würde, wenn sie
der Wohnung näher kam.
Allerdings wollte sie auch nicht ihre
Eltern bitten, den jungen Polizisten in ihre Wohnung zu holen.
Das kam ihr irgendwie lächerlich vor. Sie war eine erwachsene Frau
und brauchte niemanden, der als ihr Sprachrohr fungierte.
Den ganzen Tag über schleppte sie den
Gedanken mit sich herum, dass sie unbedingt mit Herrn Jäger
sprechen musste. Es ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Sie wusste,
er war lediglich auf der anderen Seite der Wand. So nah und doch so
fern.
Am Abend lag sie erneut in ihrem Bett
und lauschte. Sie hörte leise Geräusche. Schritte, klapperndes
Geschirr oder den Fernseher. Fast so, als ob er da drüben wohnen
würde.
Sie wusste nicht, warum sie es tat,
aber sie nahm ihre Hand und klopfte mit ihrem Zeigefinger an die
Wand. Sie klopfte einen Rhythmus. Fünfmal kurz und zweimal
lang. Dann war es für einen Moment ganz still. Schließlich klopfte
es auch an ihre Wand. Fünfmal kurz und zweimal lang. Herr Jäger
erwiderte ihren Rhythmus. Ruth musste unwillkürlich lächeln.
Dann klopfte sie erneut. Dieses Mal
einen anderen Rhythmus. Zweimal lang und dreimal kurz. Und
dieses Mal dauerte es nicht lang und da kam auch schon eine
Erwiderung. Sie kicherte wie ein kleines Mädchen los. Auch er
lachte, was sie dumpf durch die Wand hörte.
Am liebsten hätte sie lauter
gesprochen. .Durch die Wand hindurch. Aber sie wollte nicht, dass das
ihre Eltern mitbekamen. Da fiel ihr ein, dass sie ja seine
Handynummer hatte. Sie nahm sofort ihr Smartphone zur Hand und tippte
los:
Sorry, dass ich so albern bin.
Wenige Augenblicke sptäter kam seine
Antwort:
Quatsch. Das ist doch lustig.
Sie war erleichtert. Jetzt wollte sie
die Chance nutzen, um ihn zu fragen. Sie zögerte zwar kurz, aber
dann traute sie sich schließlich.
Was machen Sie in seiner Wohnung?
Ich lauere ihm auf. Ich bin davon
überzeugt, dass er irgendwann nach Hause kommt. Hier sind alle seine
Sachen. Irgendwann braucht er irgendwas hiervon und dann kommt er
nach Hause.
Aber er kann sich doch bestimmt
denken, dass man ihn hier erwartet. Außerdem wohnt meine Familie
nebenan. Er wird uns – vor allem meinem Vater – nicht begegnen
wollen.
Wenn er kommt, dann kommt er
sowieso nachts, wenn Sie schlafen. Und es gibt ein paar Dinge hier,
auf die er nicht verzichten mag.
Was denn?
Erinnerungsstücke. Auf die kann
er nicht verzichten, denke ich. Das wird ihn hierher treiben.
Dann wäre er ganz schön dumm.
Er ist total psycho. Ich weiß
nicht, ob er dann logisch nachdenkt. Er ist krank.
Darauf wusste Ruth nicht zu antworten.
Ihr war bewusst, dass er total gestört war. Schon in der Bahn
verhielt er sich nicht normal. Aber nach dieser Tat will sie ihn
hinter Gittern sehen. Er soll einfach nur bestraft werden und
nicht einfach nur als psychisch Kranker, der gesund werden muss.
Das Handy vibrierte erneut. Es war
eine weitere Nachricht von Herrn Jäger.
Habe ich etwas Falsches
geschrieben?
Nein. Ich musste nur kurz
nachdenken. Danke für Ihre Offenheit. Aber ich kann mir immer
noch nicht vorstellen, dass es irgendwas so Wichtiges gibt, dass er
dafür seine Deckung aufgeben würde.
Ich kann es Ihnen zeigen. Wollen
Sie herüber kommen.
Plötzlich ergriff sie die Panik. Sie
bekam Herzrasen und sie musste heftiger atmen. Bei dem
Gedanken, in seine Wohnung zu gehen, wurde ihr ganz heiß und
kalt zugleich. Sie nahm allen Mut zusammen und gab Herrn Jäger eine
Antwort:
Ich habe Angst.
Das brauchen Sie nicht. Er ist
nicht hier und ich bin bei Ihnen.
Ich überlege es mir. Gute Nacht!
Gute Nacht!