[Er wartet auf dich] Kapitel 17

Nach dem Besuch von Herrn Jäger fühlte sich Ruth Tag für Tag ein klein bisschen besser. Mittler­weile ließ sie Licht in ihr Zimmer. Zudem setzte sie sich für die Mahlzeiten zu ihren Eltern, was auch sie ein wenig beruhigte. Irgendwie hatte ihr Herr Jäger Kraft gegeben. Als sie so über ihn nach­dachte, fand sie es sehr schön, dass er sich um sie kümmerte. Doch bisher hatte sie noch nicht getraut, seine Handynummer, die er ihr hinterlas­sen hatte, in Anspruch zu nehmen.
Dabei war sie neugierig. Wie alt er wohl war, fragte sie sich. Definitiv noch keine 30. Das war gewiss.
Irgendwann bremste sie sich selbst bei diesen Gedanken. Sie zwang sich, nicht mehr an Herrn Jäger zu denken. Sie wollte es sich nicht erlau­ben, denn schließlich war ihre Großmutter gerade ermordet worden (ganz zu schweigen von ihrer ei­genen Vergewaltigung). Sie war davon überzeugt, dass sie noch eine gewisse Zeit zu leiden hatte. Auch wenn sie mittlerweile ein kleines Licht am Ende des Tunnels sah.
Nach dem Abendessen, verzog sie sich wieder auf ihr Zimmer. Sie nahm ihr Handy in die Hand und öffnete die Kontaktdaten von Herrn Jäger. Da war also seine Handynummer. Ihr Finger kreisten um die Wörter 'Nachricht senden', aber sie traute sich nicht, darauf zu klicken. Schließlich legte sie das Smartphone zur Seite und legte sich hin. Ir­gendwann schlief sie ein.

Doch mitten in der Nacht wurde sie von einem Poltern geweckt.
Was war das?
Schnell versuchte sie sich wieder zu beruhigen. Sie war seit der Tat sehr schreckhaft geworden und wachte regelmäßig in der Nacht von irgend­welchen Geräuschen auf. Jedes Mal stellte sich heraus, dass es etwas Harmloses war: Entweder betätigte der Nachbar über ihr die Klospülung oder ein Auto fuhr unten an der Straße an ihrem Fens­ter vorbei. Daher dachte sie sich nichts dabei und schloss die Augen wieder.
Doch da hörte sie Schritte auf der anderen Sei­te ihrer Wand. Dort befand sich die Wohnung von Herrn Wolff. War er zurückgekehrt?
Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Panik und Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Vor lauter Angst zog sie die Decke über ihren Kopf. Das hat­te sie schon als kleines Mädchen getan, wenn sie dachte, das ein Geist sie in ihrem Zimmer heim­suchte. Doch dieses Mal war es kein Geist, son­dern ein reales Monster. Davon ging sie jedenfalls aus.
Unwillkürlich lauschte sie angestrengt. Sie woll­te ihre Vermutung bestätigt wissen. Und da war tatsächlich wieder ein Geräusch. Stimmen. Als würde der Fernseher oder der Computer laufen.
Ruth zitterte am ganzen Körper. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Vergewaltiger durch die Wand brechen und zu ihr gelangen konnte. Das war na­türlich Blödsinn. Aber Panik war nicht rational er­klärbar.
Reiß dich zusammen, sagte sie zu sich selbst. Sie atmete einmal kräftig ein und aus. Dann zog sie vorsichtig die Decke von sich. Sie wollte selbst keine Geräusche machen, da sie ihrem Nachbarn nicht zeigen wollte, dass sie wach war. Auf Zehen­spitzen verließ sie ihr Zimmer und ging hinüber ins Elternschlafzimmer. Ohne Anzuklopfen öffnete sie die Tür und flüsterte ihren Eltern zu:
Mama! Papa! Wacht auf! Bitte!“
Erst reagierten sie nicht. Da ging sie zu ihrer Mutter und stupste sie an die Schulter. Ihre Mutter erschrak.
Huch!“, rief sie laut aus.
Pssst!“, befahl Ruth.
Was ist los?“, gähnte sodann auch ihr Vater.
Seid ruhig! Er ist wieder da?“
Wer?“, wollte der Vater wissen.
Wolff. Ich höre Geräusche aus seiner Woh­nung?“
Wirklich?“, piepste ihre Mutter erschrocken.
Wartet einen Augenblick!“, forderte der Vater seine Frau und seine Tochter auf. Er stand auf, zog sich seine Hausschuhe an und verließ das Zimmer.
Sei vorsichtig“, rief ihm seine Frau noch leise hinterher.
Der Vater ging in das Zimmer seiner Tochter und legte sein Ohr an die Wand. Tatsächlich hörte er auch was. Schnell ging er zurück zu seiner Fa­milie und schnappte sich sein Handy.
Ich rufe die Polizei.“
Ruth hatte große Angst. Ihre Mutter nahm sie in den Arm und hielt sie ganz fest.
Es dauerte nicht lang, bis die Polizei vor der Tür stand. Der Vater beobachtete alles durch den Tür­spion. Mutter und Tochter standen Arm in Arm hin­ter ihm.
Sie klopften an Herrn Wolffs Tür. Kurze Zeit später öffnete sie sich. Und wer stand im Türrah­men?
Das ist ja Herr Jäger“, sagte der Vater, als er sich zu seiner Frau und seiner Tochter wendete. „Er ist in Wolffs Wohnung.“
Ruth war vollkommen überrascht.