Nach dem Besuch von Herrn Jäger
fühlte sich Ruth Tag für Tag ein klein bisschen besser.
Mittlerweile ließ sie Licht in ihr Zimmer. Zudem setzte sie
sich für die Mahlzeiten zu ihren Eltern, was auch sie ein wenig
beruhigte. Irgendwie hatte ihr Herr Jäger Kraft gegeben. Als sie so
über ihn nachdachte, fand sie es sehr schön, dass er sich um
sie kümmerte. Doch bisher hatte sie noch nicht getraut, seine
Handynummer, die er ihr hinterlassen hatte, in Anspruch zu
nehmen.
Dabei war sie neugierig. Wie alt er
wohl war, fragte sie sich. Definitiv noch keine 30. Das war gewiss.
Irgendwann bremste sie sich selbst bei
diesen Gedanken. Sie zwang sich, nicht mehr an Herrn Jäger zu
denken. Sie wollte es sich nicht erlauben, denn schließlich war
ihre Großmutter gerade ermordet worden (ganz zu schweigen von ihrer
eigenen Vergewaltigung). Sie war davon überzeugt, dass sie noch
eine gewisse Zeit zu leiden hatte. Auch wenn sie mittlerweile ein
kleines Licht am Ende des Tunnels sah.
Nach dem Abendessen, verzog sie sich
wieder auf ihr Zimmer. Sie nahm ihr Handy in die Hand und öffnete
die Kontaktdaten von Herrn Jäger. Da war also seine Handynummer. Ihr
Finger kreisten um die Wörter 'Nachricht senden', aber sie traute
sich nicht, darauf zu klicken. Schließlich legte sie das Smartphone
zur Seite und legte sich hin. Irgendwann schlief sie ein.
Doch mitten in der Nacht wurde sie von
einem Poltern geweckt.
Was war das?
Schnell versuchte sie sich wieder zu
beruhigen. Sie war seit der Tat sehr schreckhaft geworden und wachte
regelmäßig in der Nacht von irgendwelchen Geräuschen auf.
Jedes Mal stellte sich heraus, dass es etwas Harmloses war: Entweder
betätigte der Nachbar über ihr die Klospülung oder ein Auto fuhr
unten an der Straße an ihrem Fenster vorbei. Daher dachte sie
sich nichts dabei und schloss die Augen wieder.
Doch da hörte sie Schritte auf der
anderen Seite ihrer Wand. Dort befand sich die Wohnung von Herrn
Wolff. War er zurückgekehrt?
Plötzlich überkam sie ein Gefühl
der Panik und Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Vor lauter Angst
zog sie die Decke über ihren Kopf. Das hatte sie schon als
kleines Mädchen getan, wenn sie dachte, das ein Geist sie in ihrem
Zimmer heimsuchte. Doch dieses Mal war es kein Geist, sondern
ein reales Monster. Davon ging sie jedenfalls aus.
Unwillkürlich lauschte sie
angestrengt. Sie wollte ihre Vermutung bestätigt wissen. Und da
war tatsächlich wieder ein Geräusch. Stimmen. Als würde der
Fernseher oder der Computer laufen.
Ruth zitterte am ganzen Körper. Sie
hatte das Gefühl, dass ihr Vergewaltiger durch die Wand brechen und
zu ihr gelangen konnte. Das war natürlich Blödsinn. Aber Panik
war nicht rational erklärbar.
Reiß dich
zusammen,
sagte sie zu sich selbst. Sie atmete einmal kräftig ein und aus.
Dann zog sie vorsichtig die Decke von sich. Sie wollte selbst keine
Geräusche machen, da sie ihrem Nachbarn nicht zeigen wollte, dass
sie wach war. Auf Zehenspitzen verließ sie ihr Zimmer und ging
hinüber ins Elternschlafzimmer. Ohne Anzuklopfen öffnete sie die
Tür und flüsterte ihren Eltern zu:
„Mama! Papa!
Wacht auf! Bitte!“
Erst reagierten sie nicht. Da ging sie
zu ihrer Mutter und stupste sie an die Schulter. Ihre Mutter
erschrak.
„Huch!“, rief
sie laut aus.
„Pssst!“,
befahl Ruth.
„Was ist los?“,
gähnte sodann auch ihr Vater.
„Seid ruhig! Er
ist wieder da?“
„Wer?“, wollte
der Vater wissen.
„Wolff. Ich höre
Geräusche aus seiner Wohnung?“
„Wirklich?“,
piepste ihre Mutter erschrocken.
„Wartet einen
Augenblick!“, forderte der Vater seine Frau und seine Tochter auf.
Er stand auf, zog sich seine Hausschuhe an und verließ das Zimmer.
„Sei vorsichtig“,
rief ihm seine Frau noch leise hinterher.
Der Vater ging in das Zimmer seiner
Tochter und legte sein Ohr an die Wand. Tatsächlich hörte er auch
was. Schnell ging er zurück zu seiner Familie und schnappte
sich sein Handy.
„Ich rufe die
Polizei.“
Ruth hatte große Angst. Ihre Mutter
nahm sie in den Arm und hielt sie ganz fest.
Es dauerte nicht lang, bis die Polizei
vor der Tür stand. Der Vater beobachtete alles durch den Türspion.
Mutter und Tochter standen Arm in Arm hinter ihm.
Sie klopften an Herrn Wolffs Tür.
Kurze Zeit später öffnete sie sich. Und wer stand im Türrahmen?
„Das ist ja Herr
Jäger“, sagte der Vater, als er sich zu seiner Frau und seiner
Tochter wendete. „Er ist in Wolffs Wohnung.“
Ruth war vollkommen überrascht.