[Er wartet auf dich] Kapitel 15

Ruth war mittlerweile schon wieder seit ein paar Wochen in Hamburg bei ihrer Familie. Nach wie vor nahm sie die Sache total mit. Sie konnte es einfach weder vergessen noch verdrängen.
Auf der Arbeit war sie krankgeschrieben. Sie sperrte sich nur in ihrem Zimmer ein und sprach mit niemanden. Nicht einmal zum Essen kam sie aus ihrem Zimmer. Ihre Eltern machten sich große Vorwürfe.
Auch Freunde hatten es schwer, mit ihr in Kon­takt zu treten. Sie ließ niemanden an sich ran und wollte auch keinen sehen. Nachts weinte sie viel. Ihr ging es total schlecht.
Eines Abends musste sie auf die Toilette. Auf dem Weg dahin, hörte sie durch die Küchentür, wie ihre Eltern miteinander sprachen:
Ich mache mir große Sorgen um sie“, sagte ihre Mutter traurig. „Sie ist total depressiv.“
Man mag sich gar nicht vorstellen, wie sie sich fühlt“, erklärte ihr Vater. „Wahrscheinlich würde sich jeder an ihrer Stelle so verhalten.“
Aber ich kann mir das nicht ansehen. Ich ma­che mir solche Vorwürfe. Warum haben wir sie al­leine nach Frankfurt fahren lassen?“

Sie ist volljährig. Und seit wir hier wohnen, ist sie jedes Jahr ihre Großmutter besuchen gefah­ren. Wir konnten es ja nicht ahnen. Dann könnten wir uns gleich dafür ohrfeigen, überhaupt nach Hamburg gezogen zu sein. Wenn wir in Frankfurt geblieben wären, hätte sie gar keinen Grund ge­habt, alleine Zug zu fahren. Du merkst, wie lächer­lich das klingt.“
Ich weiß“, gab die Mutter zu. „Aber trotzdem mache ich mir Vorwürfe. Herr Wolff schien auch immer so nett. Ich hätte nie gedacht, was für ein kranker Psychopath das ist.“
Man kann leider niemanden hinter die Stirn bli­cken.“
Hoffentlich schnappen sie ihn. Dieser Mistkerl!“ Ihre Mutter klang verbittert.
Dass sie ihn noch nicht gefasst hatten, war auch ein Grund, warum Ruth das Haus nicht ver­ließ. Sie hatte große Angst, dass er ihr hinter der nächsten Häuserwand auflauerte. Oder noch schlimmer: Direkt vor der Haustür. Schließlich war seine Wohnung genau nebenan.
Die Polizei hatte bereits die Wohnung durch­sucht, doch nichts Auffälliges gefunden. Seitdem war die Haustür verschlossen und niemand betrat die Wohnung. Am liebsten wäre Ruth sofort umge­zogen. Das ganze Haus erinnerte sie an Herrn Wolff, denn schon oft war sie ihm im Hausflur be­gegnet. Solange sie dort blieben, würde sie das nicht vergessen. Außerdem wusste sie ja, dass ihr Vergewaltiger genau wusste, wo er sie finden wür­de. Vielleicht war sie nicht mal in ihren eigenen vier Wänden sicher. Nachts wachte sie bei dem kleinsten Geräusch auf, weil sie dachte, der blon­de Banker hätte einen Weg in ihre Wohnung gefunden. In mancher Nacht wäre sie am liebsten zu ihren Eltern ins Bett gekrochen, so wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Ruth führte ihren Weg zur Toilette fort. Sie schaute in den Spiegel und wie so oft, ekelte sie sich vor dem Anblick im Spiegel. Sie konnte sich selbst nicht mehr ansehen. Als sie vergewaltigt wurde, war es so, als ob er sie beschmutzt hätte. Nein... Schlimmer! Sie fühlte sich verseucht.
Sie öffnete eine Tür des Spiegelschranks und suchte nach einer Schere. Da war sie. Sie nahm sie in die eine Hand. Mit der anderen nahm sie Strähne für Strähne ihrer langen braunen Haare und schnitt sie ab. Haarbüschel für Haarbüschel fiel ins Waschbecken. Sie konnte nicht aufhören. Es war wie eine Befreiung.
Als sie fertig war, schaute sie sich ihr Werk im Spiegel genauer an. Jetzt hatte sie so kurzes Haar wie ein Junge. Sie wirkte dadurch stärker, nicht so lieb. Sie war nicht mehr lieb. Die liebe, nette Bäckergesellin war fort. Ihre Unschuld wurde ihr genommen und das sollte man nun auch äußer­lich erkennen.
Plötzlich klopfte es an der Badezimmertür.
Ruth, bist du da drin?“, fragte ihre Mutter durch die Tür.
Ja“, antwortete die Achtzehnjährige kurz ange­bunden.
Alles in Ordnung?“
Ruth schloss die Tür auf und öffnete sie. Ihre Mutter blickte sie entsetzt an, als sie das Haar ih­rer Tochter sah.
Meine Güte!“, rief sie aus. „Was hast du ge­macht?“
Nichts“, antwortete Ruth und drängte sich ton­los an ihrer Mutter vorbei. Sie ging zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ihre Mut­ter hatte erneut Tränen in den Augen.