Ruth war mittlerweile schon wieder
seit ein paar Wochen in Hamburg bei ihrer Familie. Nach wie vor nahm
sie die Sache total mit. Sie konnte es einfach weder vergessen noch
verdrängen.
Auf der Arbeit war sie
krankgeschrieben. Sie sperrte sich nur in ihrem Zimmer ein und sprach
mit niemanden. Nicht einmal zum Essen kam sie aus ihrem Zimmer. Ihre
Eltern machten sich große Vorwürfe.
Auch Freunde hatten es schwer, mit ihr
in Kontakt zu treten. Sie ließ niemanden an sich ran und wollte
auch keinen sehen. Nachts weinte sie viel. Ihr ging es total
schlecht.
Eines Abends musste sie auf die
Toilette. Auf dem Weg dahin, hörte sie durch die Küchentür, wie
ihre Eltern miteinander sprachen:
„Ich mache mir
große Sorgen um sie“, sagte ihre Mutter traurig. „Sie ist total
depressiv.“
„Man mag sich gar
nicht vorstellen, wie sie sich fühlt“, erklärte ihr Vater.
„Wahrscheinlich würde sich jeder an ihrer Stelle so verhalten.“
„Aber ich kann
mir das nicht ansehen. Ich mache mir solche Vorwürfe. Warum
haben wir sie alleine nach Frankfurt fahren lassen?“
„Sie ist
volljährig. Und seit wir hier wohnen, ist sie jedes Jahr ihre
Großmutter besuchen gefahren. Wir konnten es ja nicht ahnen.
Dann könnten wir uns gleich dafür ohrfeigen, überhaupt nach
Hamburg gezogen zu sein. Wenn wir in Frankfurt geblieben wären,
hätte sie gar keinen Grund gehabt, alleine Zug zu fahren. Du
merkst, wie lächerlich das klingt.“
„Ich weiß“,
gab die Mutter zu. „Aber trotzdem mache ich mir Vorwürfe. Herr
Wolff schien auch immer so nett. Ich hätte nie gedacht, was für ein
kranker Psychopath das ist.“
„Man kann leider
niemanden hinter die Stirn blicken.“
„Hoffentlich
schnappen sie ihn. Dieser Mistkerl!“ Ihre Mutter klang verbittert.
Dass sie ihn noch nicht gefasst
hatten, war auch ein Grund, warum Ruth das Haus nicht verließ.
Sie hatte große Angst, dass er ihr hinter der nächsten Häuserwand
auflauerte. Oder noch schlimmer: Direkt vor der Haustür. Schließlich
war seine Wohnung genau nebenan.
Die Polizei hatte bereits die Wohnung
durchsucht, doch nichts Auffälliges gefunden. Seitdem war die
Haustür verschlossen und niemand betrat die Wohnung. Am liebsten
wäre Ruth sofort umgezogen. Das ganze Haus erinnerte sie an
Herrn Wolff, denn schon oft war sie ihm im Hausflur begegnet.
Solange sie dort blieben, würde sie das nicht vergessen. Außerdem
wusste sie ja, dass ihr Vergewaltiger genau wusste, wo er sie finden
würde. Vielleicht war sie nicht mal in ihren eigenen vier
Wänden sicher. Nachts wachte sie bei dem kleinsten Geräusch auf,
weil sie dachte, der blonde Banker hätte einen Weg in ihre
Wohnung gefunden. In mancher Nacht wäre sie am liebsten zu ihren
Eltern ins Bett gekrochen, so wie damals, als sie noch ein kleines
Mädchen war.
Ruth führte ihren Weg zur Toilette
fort. Sie schaute in den Spiegel und wie so oft, ekelte sie sich vor
dem Anblick im Spiegel. Sie konnte sich selbst nicht mehr ansehen.
Als sie vergewaltigt wurde, war es so, als ob er sie beschmutzt
hätte. Nein... Schlimmer! Sie fühlte sich verseucht.
Sie öffnete eine Tür des
Spiegelschranks und suchte nach einer Schere. Da war sie. Sie nahm
sie in die eine Hand. Mit der anderen nahm sie Strähne für Strähne
ihrer langen braunen Haare und schnitt sie ab. Haarbüschel für
Haarbüschel fiel ins Waschbecken. Sie konnte nicht aufhören. Es war
wie eine Befreiung.
Als sie fertig war, schaute sie sich
ihr Werk im Spiegel genauer an. Jetzt hatte sie so kurzes Haar wie
ein Junge. Sie wirkte dadurch stärker, nicht so lieb. Sie war nicht
mehr lieb. Die liebe, nette Bäckergesellin war fort. Ihre Unschuld
wurde ihr genommen und das sollte man nun auch äußerlich
erkennen.
Plötzlich klopfte es an der
Badezimmertür.
„Ruth, bist du da
drin?“, fragte ihre Mutter durch die Tür.
„Ja“,
antwortete die Achtzehnjährige kurz angebunden.
„Alles in
Ordnung?“
Ruth schloss die Tür auf und öffnete
sie. Ihre Mutter blickte sie entsetzt an, als sie das Haar ihrer
Tochter sah.
„Meine Güte!“,
rief sie aus. „Was hast du gemacht?“
„Nichts“,
antwortete Ruth und drängte sich tonlos an ihrer Mutter vorbei.
Sie ging zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ihre
Mutter hatte erneut Tränen in den Augen.