[Er wartet auf dich] Kapitel 9

Mittlerweile hatte es komplett aufgehört zu regnen, als sie am Wohnhaus ihrer Großmutter angekom­men war. Sie stand vor einem vierstöckigen Ge­bäude. Ihre Oma wohnte auf der zweiten Etage. Sie schaute sehnsüchtig nach oben zum Küchen­fenster. Ihre geliebte Oma erwartete sie sicherlich ebenso sehnsüchtig, wie sich Ruth auf sie freute.
Die Achtzehnjährige stellte ihre Tasche und den Präsentkorb ab und klingelte. Nach wenigen Se­kunden ertönte bereits ein Rauschen durch die Gegensprechanlage.
Hallo, Oma“, rief Ruth hinein. „Ich bin endlich da. Machst du mir bitte die Tür auf.“
Die Eingangstür summte und Ruth konnte sie öffnen. Sie wunderte sich zwar, dass sich ihre Großmutter nicht gemeldet hatte, dachte aber nicht länger darüber nach.
Sie schnappte sich ihre Tasche und den Korb und stakste die Treppen hinauf. Sie freute sich darauf, endlich die nassen Klamotten loszuwer­den. Wahrscheinlich würde sie sich jetzt auch noch erkälten.

Als sie vor der Wohnungstür ankam, wunderte sich Ruth, dass ihre Großmutter nicht bereits an der Tür wartete.
Oma?“, rief sie fragend in den Raum hinein, doch es blieb still.
Seltsam, dachte sie sich und trat durch die Tür, die einen Spalt breit offenstand.
Sie blickte den langen Flur entlang, doch ihre Großmutter zeigte sich nicht. Daher versuchte sie es erneut:
Oma?“
Keine Antwort.
Oma? Wo bist du?“
Irgendwie kam es ihr komisch vor. So hatte sich ihre Großmutter noch nie verhalten. Sie schaute nach links durch die Tür in die Küche. Es war auf­geräumt wie immer. Ruth ließ ihre Tasche und den Präsentkorb an der Eingangstür stehen. Dann zog sie ihre Jacke aus und lief zur Garderobe, die sich in der Mitte des langen Flurs befand. Sie hängte die Jacke auf und lief dann in Richtung Wohnzim­mer.
Oma?“, rief sie erneut.
Sie öffnete die Wohnzimmertür. Doch das Zim­mer war leer. Langsam überkam sie ein mulmiges Gefühl. Was war hier los? Irgendwas stimmte nicht und das rief langsam Panik in ihr hervor. Sie überlegte, ob sie sofort die Polizei rufen sollte, doch sie kam zu dem Entschluss, sich selbst erst einmal genau zu überzeugen und die Situation richtig einzuschätzen. Vielleicht machte ihre Oma nur einen Spaß und wollte ihr einen Schrecken einjagen, obwohl sie eigentlich gar nicht der Typ dafür war.
Sie schlich langsam und leise rüber zur Schlaf­zimmertür. Warum sie jetzt so ruhig wurde, wusste sie selbst nicht. Es war ja sinnlos, da sie zuvor ja so einen Krach gemacht hatte. Trotzdem schlich sie in der Wohnung herum.
Als sie vor der Schlafzimmertür stand, wurde ihr ein wenig schlecht. Ihr Herz raste. Was ging hier nur vor? Der Tag war bis hierhin schon eine Kata­strophe gewesen. Zunächst einmal war da das Mistwetter, aber vor allem war da der schmierige Herr Wolff. Als sie die Türklinke in die Hand nahm, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf.
Herr Wolff.
Ihr Portemonnaie war weg. Damit konnte sie nicht so schnell wie geplant zu der Wohnung ihrer Großmutter kommen. So hatte jemand genug Zeit, um hierher zu kommen.
Doch dann wischte sie den Gedanken schnell wieder weg. Das war unsinnig, dachte sie dann. Sie glaubte fast schon selbst, dass sie paranoid wurde. Es wurde Zeit, einfach mal im Schlafzim-mer nachzugucken.
Plötzlich kam ihr eine Eingebung. Sie zog ihre Hand erneut zurück und drehte sich um. Eilig lief sie zu ihrer Reisetasche und machte eine erschre­ckende Feststellung. Vor Entsetzen riss sie ihre braunen Augen auf und ihr klappte der Mund wie von allein auf.
Zuhause hatte sie ein Schildchen an ihre Reise­tasche befestigt. Darauf notierte sie die Adresse ihrer Großmutter, falls die Tasche verloren ging und sie jemand fand. Sie erinnerte sich daran, wie sie an ihrem Schreibtisch saß und fein säuberlich mit einem blauen Kugelschreiber ihren Namen, der ja auch der Name ihrer Großmutter war, inklusive der Adresse in Frankfurt notierte und das Schildchen an der Tasche festmachte. Nun war das Schildchen weg.
Ihr Herz klopfte wie wild und Schweißperlen bil­deten sich auf ihrer Stirn. Sie war nun überzeugt: Herr Wolff nutzte die Zeit, als sie selbst auf der Toilette war und entwendete ihr Portemonnaie, da­mit sich Ruth keine Bahnfahrkarte leisten und er ausreichend zeitlichen Vorsprung ergattern konnte. Zudem riss er das Schildchen mit der Adresse an sich und war nun in der Wohnung sei­ner Oma eingedrungen, wo er auf Ruth gewartet hatte, um ihr aufzulauern.
Vor Schreck nahm sich Ruth ihre Hand vor den Mund. Ihre Angst um ihre Großmutter wuchs ins Unermessliche. Sie drehte sich um und rannte auf das Schlafzimmer zu.