Mittlerweile hatte es komplett
aufgehört zu regnen, als sie am Wohnhaus ihrer Großmutter
angekommen war. Sie stand vor einem vierstöckigen Gebäude.
Ihre Oma wohnte auf der zweiten Etage. Sie schaute sehnsüchtig nach
oben zum Küchenfenster. Ihre geliebte Oma erwartete sie
sicherlich ebenso sehnsüchtig, wie sich Ruth auf sie freute.
Die Achtzehnjährige stellte ihre
Tasche und den Präsentkorb ab und klingelte. Nach wenigen Sekunden
ertönte bereits ein Rauschen durch die Gegensprechanlage.
„Hallo, Oma“, rief Ruth hinein.
„Ich bin endlich da. Machst du mir bitte die Tür auf.“
Die Eingangstür summte und Ruth
konnte sie öffnen. Sie wunderte sich zwar, dass sich ihre Großmutter
nicht gemeldet hatte, dachte aber nicht länger darüber nach.
Sie schnappte sich ihre Tasche und den
Korb und stakste die Treppen hinauf. Sie freute sich darauf, endlich
die nassen Klamotten loszuwerden. Wahrscheinlich würde sie sich
jetzt auch noch erkälten.
Als sie vor der Wohnungstür ankam,
wunderte sich Ruth, dass ihre Großmutter nicht bereits an der Tür
wartete.
„Oma?“, rief sie fragend in den
Raum hinein, doch es blieb still.
Seltsam,
dachte sie sich und trat durch die Tür, die einen Spalt breit
offenstand.
Sie blickte den langen Flur entlang,
doch ihre Großmutter zeigte sich nicht. Daher versuchte sie es
erneut:
„Oma?“
Keine Antwort.
„Oma? Wo bist du?“
Irgendwie kam es ihr komisch vor. So
hatte sich ihre Großmutter noch nie verhalten. Sie schaute nach
links durch die Tür in die Küche. Es war aufgeräumt wie
immer. Ruth ließ ihre Tasche und den Präsentkorb an der Eingangstür
stehen. Dann zog sie ihre Jacke aus und lief zur Garderobe, die sich
in der Mitte des langen Flurs befand. Sie hängte die Jacke auf und
lief dann in Richtung Wohnzimmer.
„Oma?“, rief sie erneut.
Sie öffnete die Wohnzimmertür. Doch
das Zimmer war leer. Langsam überkam sie ein mulmiges Gefühl.
Was war hier los? Irgendwas stimmte nicht und das rief langsam Panik
in ihr hervor. Sie überlegte, ob sie sofort die Polizei rufen
sollte, doch sie kam zu dem Entschluss, sich selbst erst einmal genau
zu überzeugen und die Situation richtig einzuschätzen. Vielleicht
machte ihre Oma nur einen Spaß und wollte ihr einen Schrecken
einjagen, obwohl sie eigentlich gar nicht der Typ dafür war.
Sie schlich langsam und leise rüber
zur Schlafzimmertür. Warum sie jetzt so ruhig wurde, wusste sie
selbst nicht. Es war ja sinnlos, da sie zuvor ja so einen Krach
gemacht hatte. Trotzdem schlich sie in der Wohnung herum.
Als sie vor der Schlafzimmertür
stand, wurde ihr ein wenig schlecht. Ihr Herz raste. Was ging hier
nur vor? Der Tag war bis hierhin schon eine Katastrophe gewesen.
Zunächst einmal war da das Mistwetter, aber vor allem war da der
schmierige Herr Wolff. Als sie die Türklinke in die Hand nahm,
schoss es ihr plötzlich durch den Kopf.
Herr Wolff.
Ihr Portemonnaie war weg. Damit konnte
sie nicht so schnell wie geplant zu der Wohnung ihrer Großmutter
kommen. So hatte jemand genug Zeit, um hierher zu kommen.
Doch dann wischte sie den Gedanken
schnell wieder weg. Das war unsinnig, dachte sie dann. Sie glaubte
fast schon selbst, dass sie paranoid wurde. Es wurde Zeit, einfach
mal im Schlafzim-mer nachzugucken.
Plötzlich kam ihr eine Eingebung. Sie
zog ihre Hand erneut zurück und drehte sich um. Eilig lief sie zu
ihrer Reisetasche und machte eine erschreckende Feststellung.
Vor Entsetzen riss sie ihre braunen Augen auf und ihr klappte der
Mund wie von allein auf.
Zuhause hatte sie ein Schildchen an
ihre Reisetasche befestigt. Darauf notierte sie die Adresse
ihrer Großmutter, falls die Tasche verloren ging und sie jemand
fand. Sie erinnerte sich daran, wie sie an ihrem Schreibtisch saß
und fein säuberlich mit einem blauen Kugelschreiber ihren Namen, der
ja auch der Name ihrer Großmutter war, inklusive der Adresse in
Frankfurt notierte und das Schildchen an der Tasche festmachte. Nun
war das Schildchen weg.
Ihr Herz klopfte wie wild und
Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie war nun
überzeugt: Herr Wolff nutzte die Zeit, als sie selbst auf der
Toilette war und entwendete ihr Portemonnaie, damit sich Ruth
keine Bahnfahrkarte leisten und er ausreichend zeitlichen Vorsprung
ergattern konnte. Zudem riss er das Schildchen mit der Adresse an
sich und war nun in der Wohnung seiner Oma eingedrungen, wo er
auf Ruth gewartet hatte, um ihr aufzulauern.
Vor Schreck nahm sich Ruth ihre Hand
vor den Mund. Ihre Angst um ihre Großmutter wuchs ins Unermessliche.
Sie drehte sich um und rannte auf das Schlafzimmer zu.