Frankfurt
bedeutete für Ruth, zuhause anzukommen. Zwar ist Hamburg eine
absolut schöne Stadt und sie wohnte gerne dort, aber sie war im
Großstadtgetümmel Frankfurts geboren und aufgewachsen,
sodass sie sich jedes Mal wieder pudelwohl fühlte, wenn sie den
Boden in Frankfurt berührte.
Am Hauptbahnhof herrschte die gewohnte
Hektik und der Trubel. Leute eilten von einem Bahnsteig zum
nächsten, auf der Suche nach ihrem Zug. Viele Touristen, die mit
ihrem Rucksack gerade ankamen und wahrscheinlich auf dem Weg zu
den naheliegenden Hostels waren, stürmten an ihr vorbei. Natürlich
durften die obligatorischen Junkies nicht fehlen, die von den
nicht Einheimischen verächtlich angeschaut wurden, für die
Frankfurter aber zur Normalität gehörten.
Ruth musste kurz überlegen. Sie
musste nach Sachsenhausen. Mit der U-Bahn müsste sie einmal
umsteigen. Die S-Bahn fuhr direkt zum Südbahnhof. Also S-Bahn.
Sie fuhr die Rolltreppen mit der
Reisetasche in der einen und dem Präsentkorb in der anderen Hand
nach unten. Sie achtete peinlich darauf, dass dem Korb nichts
passierte und er heile bei ihrer Großmutter ankam.
Nun musste sie sich noch ein Ticket
ziehen. Sie suchte in ihrer Jackentasche nach ihrer Geldbörse.
Aber da war sie nicht. Wahrscheinlich hatte sie sie in der Eile in
die Reisetasche gepackt. Sie stellte den Korb ab und bückte sich
nach ihrer Tasche. Darin kramte sie herum, doch sie konnte ihr
Portemonnaie nicht finden.
Mist!
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie
die Geldbörse eingesteckt hatte. Doch da sie sie im Zug nicht
brauchte (Herr Wolff hatte im Restaurant für sie gezahlt), fiel ihr
bisher nicht auf, dass sie eventuell ihr Portemonnaie vermisste.
Sie zückte ihr Handy und rief zuhause bei sich in Hamburg an. Ihre
Mutter ging ans Telefon.
„Hallo, Mama. Ich bin es... Ja, ich
bin gut in Frankfurt angekommen. Aber weshalb ich anrufe... Kannst du
mal bitte in meinem Zimmer schauen, ob da mein Portemonnaie liegt.
Ich finde es hier nicht.“
Kurze Pause, in der wahrscheinlich die
Mutter in ihr Zimmer lief und nachsah.
„Nein, Liebes“, antwortete ihre
Mutter durch den Hörer. „Hier liegt es nicht.“
„Dann muss ich sie verloren haben.
So ein Mist“, fluchte sie. „Jetzt kann ich mir kein Ticket für
die Bahn kaufen.“
„Ruf doch bei deiner Oma an und frag
sie, ob du mit dem Taxi kommen kannst und sie dir das Geld
vorstrecken kann?“, schlug ihre Mutter vor.
„Gute Idee!“, lobte Ruth den
Vorschlag. „Okay, dann melde ich mich später noch einmal.“
Sie legte auf und sah auf ihrem
Display, dass der Akku langsam nachließ. Nur noch fünf Prozent.
Hätte sie bloß nicht solange Solitaire im Zug gespielt. Ihr Akku
war sowieso nicht mehr der neuste und da hätte sie sparsamer damit
umgehen müssen. Doch leider hatte sie ja vor Herrn Wolff
fliehen und sich dann die Langweile vertreiben müssen. Aber
vielleicht reichte es ja noch für das Telefonat.
Sie wählte die Nummer ihrer Oma, die
nicht mehr so gut auf den Beinen war. Daher dauerte es eine Weile,
bis sie abhob.
„Käppler“, meldete sich die warme
Stimme ihrer Großmutter.
„Hallo, Oma! Ich bin es, Ruth.“
Sich so zu melden, war stets ein bisschen komisch, denn ihre
Großmutter hieß auch Ruth. Ihre Eltern hatten sie ja schließlich
nach ihr benannt und daher waren sie nicht nur Großmutter und
Enkelin, sondern auch Namensvetter.
„Ach, Ruth, mein Liebes. Wann kommst
du endlich an? Ich freue mich schon so sehr auf dich.“
„Ich bin unterwegs, Oma. Ich bin
schon am Hauptbahnhof. Aber ich habe mein Portemonnaie verloren.“
„Oh nein“, rief die Großmutter
besorgt auf. „Warst du schon im Fundbüro und hast da mal
nachgefragt? Oder bei der deutschen Bahn. Du musst da gleich Bescheid
geben.“
„Nein, das habe ich noch nicht. Es
dauert sowieso mindestens 24 Stunden, bis sich da was tut. Da
kann ich auch morgen noch anrufen. Ich rufe dich aus einem anderen
Grund an.“
„Ja?“, hakte ihre Oma nach.
„Ich wollte dich fragen...“
Plötzlich wurde es still. Ruth
schaute aufs Display ihres Smartphones, das soeben ausgegangen
war.
„Noch mal Mist“, rief sie zu sich
selbst.
Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig,
als zu laufen. Sie schnappte sich ihre Tasche und den Korb und
fuhr die Rolltreppen wieder nach oben. Sie beschloss, zum Main zu
laufen und von dort aus am Fluss entlang bis zum Eisernen Steg zu
gehen. Von dort aus über die Brücke und dann war es nicht mehr
weit bis zu der Wohnung ihrer Großmutter.
Doch als sie zum Haupteingang des
Bahnhofs kam, sah sie, dass es in Strömen regnete.
Wenn es kommt, dann kommt es dicke,
dachte sie. Zum Glück hatte ihre neue rote Jacke eine Kapuze, die
sie nun überzog. Und dann machte sie sich auf den Weg.