[Er wartet auf dich] Kapitel 7

Frankfurt bedeutete für Ruth, zuhause anzukom­men. Zwar ist Hamburg eine absolut schöne Stadt und sie wohnte gerne dort, aber sie war im Groß­stadtgetümmel Frankfurts geboren und aufge­wachsen, sodass sie sich jedes Mal wieder pudel­wohl fühlte, wenn sie den Boden in Frankfurt be­rührte.
Am Hauptbahnhof herrschte die gewohnte Hek­tik und der Trubel. Leute eilten von einem Bahn­steig zum nächsten, auf der Suche nach ihrem Zug. Viele Touristen, die mit ihrem Rucksack gera­de ankamen und wahrscheinlich auf dem Weg zu den naheliegenden Hostels waren, stürmten an ihr vorbei. Natürlich durften die obligatorischen Jun­kies nicht fehlen, die von den nicht Einheimischen verächtlich angeschaut wurden, für die Frankfurter aber zur Normalität gehörten.
Ruth musste kurz überlegen. Sie musste nach Sachsenhausen. Mit der U-Bahn müsste sie ein­mal umsteigen. Die S-Bahn fuhr direkt zum Süd­bahnhof. Also S-Bahn.
Sie fuhr die Rolltreppen mit der Reisetasche in der einen und dem Präsentkorb in der anderen Hand nach unten. Sie achtete peinlich darauf, dass dem Korb nichts passierte und er heile bei ihrer Großmutter ankam.
Nun musste sie sich noch ein Ticket ziehen. Sie suchte in ihrer Jackentasche nach ihrer Geldbör­se. Aber da war sie nicht. Wahrscheinlich hatte sie sie in der Eile in die Reisetasche gepackt. Sie stellte den Korb ab und bückte sich nach ihrer Ta­sche. Darin kramte sie herum, doch sie konnte ihr Portemonnaie nicht finden.
Mist!
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie die Geld­börse eingesteckt hatte. Doch da sie sie im Zug nicht brauchte (Herr Wolff hatte im Restaurant für sie gezahlt), fiel ihr bisher nicht auf, dass sie even­tuell ihr Portemonnaie vermisste. Sie zückte ihr Handy und rief zuhause bei sich in Hamburg an. Ihre Mutter ging ans Telefon.
Hallo, Mama. Ich bin es... Ja, ich bin gut in Frankfurt angekommen. Aber weshalb ich anrufe... Kannst du mal bitte in meinem Zimmer schauen, ob da mein Portemonnaie liegt. Ich finde es hier nicht.“
Kurze Pause, in der wahrscheinlich die Mutter in ihr Zimmer lief und nachsah.
Nein, Liebes“, antwortete ihre Mutter durch den Hörer. „Hier liegt es nicht.“
Dann muss ich sie verloren haben. So ein Mist“, fluchte sie. „Jetzt kann ich mir kein Ticket für die Bahn kaufen.“
Ruf doch bei deiner Oma an und frag sie, ob du mit dem Taxi kommen kannst und sie dir das Geld vorstrecken kann?“, schlug ihre Mutter vor.
Gute Idee!“, lobte Ruth den Vorschlag. „Okay, dann melde ich mich später noch einmal.“
Sie legte auf und sah auf ihrem Display, dass der Akku langsam nachließ. Nur noch fünf Pro­zent. Hätte sie bloß nicht solange Solitaire im Zug gespielt. Ihr Akku war sowieso nicht mehr der neuste und da hätte sie sparsamer damit umge­hen müssen. Doch leider hatte sie ja vor Herrn Wolff fliehen und sich dann die Langweile vertrei­ben müssen. Aber vielleicht reichte es ja noch für das Telefonat.
Sie wählte die Nummer ihrer Oma, die nicht mehr so gut auf den Beinen war. Daher dauerte es eine Weile, bis sie abhob.
Käppler“, meldete sich die warme Stimme ihrer Großmutter.
Hallo, Oma! Ich bin es, Ruth.“ Sich so zu mel­den, war stets ein bisschen komisch, denn ihre Großmutter hieß auch Ruth. Ihre Eltern hatten sie ja schließlich nach ihr benannt und daher waren sie nicht nur Großmutter und Enkelin, sondern auch Namensvetter.
Ach, Ruth, mein Liebes. Wann kommst du end­lich an? Ich freue mich schon so sehr auf dich.“
Ich bin unterwegs, Oma. Ich bin schon am Hauptbahnhof. Aber ich habe mein Portemonnaie verloren.“
Oh nein“, rief die Großmutter besorgt auf. „Warst du schon im Fundbüro und hast da mal nachgefragt? Oder bei der deutschen Bahn. Du musst da gleich Bescheid geben.“
Nein, das habe ich noch nicht. Es dauert so­wieso mindestens 24 Stunden, bis sich da was tut. Da kann ich auch morgen noch anrufen. Ich rufe dich aus einem anderen Grund an.“
Ja?“, hakte ihre Oma nach.
Ich wollte dich fragen...“
Plötzlich wurde es still. Ruth schaute aufs Dis­play ihres Smartphones, das soeben ausgegan­gen war.
Noch mal Mist“, rief sie zu sich selbst.
Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als zu lau­fen. Sie schnappte sich ihre Tasche und den Korb und fuhr die Rolltreppen wieder nach oben. Sie beschloss, zum Main zu laufen und von dort aus am Fluss entlang bis zum Eisernen Steg zu ge­hen. Von dort aus über die Brücke und dann war es nicht mehr weit bis zu der Wohnung ihrer Groß­mutter.
Doch als sie zum Haupteingang des Bahnhofs kam, sah sie, dass es in Strömen regnete.
Wenn es kommt, dann kommt es dicke, dachte sie. Zum Glück hatte ihre neue rote Jacke eine Kapuze, die sie nun überzog. Und dann machte sie sich auf den Weg.