Auf
der Toilette im Zug war es sehr eng. Aber der Achtzehnjährigen war
die Enge gerade lieber, als wieder zurück zu ihrem Platz zu gehen,
wo Herr Wolff auf sie wartete und ständig um eine Verabredung
mit ihr bettelte.
Sie fragte sich, wie ein Mensch sich
nur so selbst blamieren konnte. Er merkte wohl gar nicht, wie
peinlich er war und wie er sich lächerlich machte. Eine andere Frau
hätte ihm wahrscheinlich viel direkter einen Korb gegeben.
Vielleicht sollte sie das auch tun. Sonst würde er nicht damit
aufhören.
Doch sie konnte das nicht. Sie wusste,
dass sie viel zu nett ist, um ihm direkt ins Gesicht zu sagen,
dass sie ihn mittlerweile richtig ekelig fand. Sie fand es total
unattraktiv, dass er sich so anbiederte.
Außerdem fragte sie sich, ob Herr
Wolff nicht eine psychische Störung hatte. Kein normaler Mensch
hätte nach einer Abfuhr weiter um ein Date gebeten. Doch er hörte
einfach nicht auf.
Am liebsten wäre sie die ganze Fahrt
über auf dieser Toilette geblieben und gar nicht mehr zu dem Platz
zurückgekehrt. Doch langsam wurde es echt zu eng in der kleinen
Toilettenkabine. Also ging sie raus und blieb auf dem Gang stehen.
Schließlich entdeckte sie einen freien Platz neben zwei älteren
Damen und beschloss, sich zu ihnen zu setzten.
Sie schaute aus dem Fenster und ließ
die Welt an sich vorbei ziehen. Sie sagte sich selbst, dass sie ihrem
unerträglichem Nachbarn erzählen würde, dass sie eine alte
Schulfreundin im Zug getroffen und sich mit ihr verquatscht
hatte. Das war ihrer Ansicht nach ein guter Plan, um nicht sofort in
das Abteil zu Herrn Wolff zurückzukehren.
Sie holte ihr Smartphone aus der
Hosentasche und spielte eine Runde Solitaire. Leider hatte sie ihre
aktuelle Lektüre im Abteil gelassen. Sonst hätte sie jetzt ein
wenig lesen können. Aber mit ihrem Handy konnte sie sich gut
die Zeit vertreiben.
Nach fast einer Stunde stand sie dann
endlich auf und marschierte zurück zum Abteil. Sie würde nur noch
etwa eine Viertelstunde mit Herrn Wolff aushalten müssen. Dann wäre
sie ihn endlich los. Diese 15 Minuten würde sie überstehen.
Als sie die Tür zur Seite schob,
blickte sie in ziemlich wütende Augen. Sie merkte sofort, dass die
Stimmung frostig war.
„Entschuldigen Sie bitte“, fing
sie an, „ich habe eine alte Schulfreundin hier im Zug getroffen und
da haben wir uns verquatscht.“
„Aha“, war die kühle Antwort
ihres Gegenübers. Er war wohl beleidigt, stellte Ruth fest. Aber das
sollte ihr recht sein. Vielleicht würde er sie jetzt in Ruhe lassen.
Wenn sie Glück hatte, hatte er jetzt das Interesse an ihr verloren.
Doch leider irrte sie sich. Nach zwei
Minuten, in denen sich beide anschwiegen, sagte er:
„Sie hätten mir ja ruhig Bescheid
geben können. Ich wartete hier wie auf heißen Kohlen.“
Er klang nun fast wie ihre Eltern,
wenn sie ihren Zapfenstreich überzogen hatte und abends zu spät
nach Hause kam. An dieser Stelle hätte sie dann ihren Eltern
erklärt, dass sie alt genug war, um selbst zu entscheiden, wann sie
zurückkam. Doch was sollte sie zu ihrem Nachbarn sagen? Sie
entschied sich für Folgendes:
„Ich bin Ihnen keine Rechenschaft
schuldig.“
Bumm! Damit hatte sie sich nun endlich
was getraut. Sie bot ihm Paroli und zeigte ihm die Stirn. Sie war
fast schon selbst von sich überrascht, dass sie so etwas hatte
äußern können. Wenn das nun nicht eindeutig war, wusste sie auch
nicht.
Herr Wolff blieb stumm und schaute
weiterhin beleidigt. Nach einer Weile fing er erneut an:
„Eigentlich schulden Sie mir jetzt
eine Verabredung, nachdem sie mich hier so warten lassen
haben.“
Nun platzte es völlig aus ihr heraus:
„Nein“, sagte sie lauter, als sie
es beabsichtigt hatte, „ich schulde Ihnen gar nichts. Vergessen Sie
bitte, dass sie jemals eine Verabredung mit mir haben werden. Ich
finde sie ehrlich gesagt viel zu aufdringlich und wenn ich das
gewusst hätte, hätte ich mich niemals zu Ihnen in dieses Abteil
gesetzt.“
Am liebsten hätte sie ihm noch ein
paar Schimpfwörter an den Kopf geknallt, aber das war absolut nicht
ihr Niveau. Sie hoffte, dass dies nun ausreichte, um ihn endlich zur
Vernunft zu bringen.
Doch Herr Wolff antwortete wie ein
trotziges Kind:
„Ich bin Banker und habe viel Geld.
Ich könnte Ihnen alles bieten, was sie möchten.“
Ruth hätte ausrasten können. Sie
konnte nicht glauben, was sie da hörte. Jetzt stellte er sie als
geldgeile Schlampe dar. Am liebsten hätte sie ihm für diesen Satz
eine geknallt.
„Ich brauche Ihr blödes Geld nicht.
Was denken Sie eigentlich von mir? Mir reicht es. Wir sind sowieso
gleich da, also stelle ich mich schon mal an die Tür.“
Sie stand auf, zog sich ihre rote
Jacke an und schnappte sich ihre Reisetasche und den Präsentkorb.
Ohne sich zu verabschieden, verließ sie das Abteil und ließ ihren
Nachbarn sitzen.
Der ist doch verrückt,
dachte sie sich wütend.
So etwas hatte sie noch nie erlebt.
Hoffentlich würde sie ihm nie wieder begegnen, obwohl es wohl eher
unwahrscheinlich war, denn sie waren ja Nachbarn in Hamburg. Ihr
gruselte der Gedanke, dass sie ihm nochmal im Treppenhaus
begegnen würde. Sie stellte sich jetzt schon vor, wie sie von
nun an immer durch den Türspion schauen würde, um herauszufinden,
ob die Luft rein war, bevor sie die Wohnung verließe.
Sie versuchte den Gedanken
abzuschütteln. Jetzt freute sich sich zunächst einmal auf den
Besuch ihrer Oma. Gerade fuhr der Zug in den Frankfurter
Hauptbahnhof ein. Ruth war sehr erleichtert, dass diese
Horrorfahrt vorüber war. Nun wollte sie den komischen Psycho schnell
vergessen.
Als sie aus dem Zug stieg, atmete sie
die kalte Luft ein, welches sie mit Energie durchströmte. Jetzt fiel
ihr eine Last von den Schultern. Endlich angekommen.