Mittlerweile
war bereits eine Stunde vergangen, in denen Ruth mit Herrn Wolff über
verschiedene Dinge sprach. Zum Beispiel erzählte sie ihm von ihrer
Ausbildung zur Bäckerin und berichtete ihm von ihrem
Lieblingsrezept. Dabei traute sie sich nicht mehr, ihm private Fragen
zu stellen, nachdem sie so ins Fettnäpfchen getreten war.
„Jetzt habe ich ganz schön Hunger
bekommen“, offenbarte der blonde Mann. „Darf ich Sie zum Essen in
das Bordrestaurant einladen?“
Ruth empfand es für unhöflich
abzulehnen, also nahm sie die Einladung an.
Im Restaurant setzten sie sich auch
gegenüber. Sofort war ein Kellner da und brachte ihnen die
Speisekarten. Ruth wunderte sich darüber, was es alles in einem
Restaurant innerhalb eines Zuges gab. Es war wie in einem richtigen
Restaurant, auch wenn die Preise recht teuer waren. Aber sie hatte
kein schlechtes Gewissen, da ihr Gegenüber dank seines Jobs gut
situiert war. Sie hingegen musste mit ihrem kleinen Azubilohn
haushalten.
Herr Wolff bestand auf eine Vorspeise
und so bestellten sie sich beide eine Tomatensuppe. Als sie serviert
wurde, probierte Ruth die heiße Flüssigkeit und befand sie für
sehr lecker. Darauf entgegnete ihr der Banker:
„Ich finde die Suppe auch sehr gut.
Und die Farbe ist ein sehr schönes, sattes Rot. Sie ist fast so
schön wie Ihre süßen Lippen.“
Ruth errötete.
„Äh danke“, antwortete sie
zaghaft. Sie fand diese Bemerkung ziemlich unangebracht. Ihre Lippen
mit einer Suppe zu vergleichen ist echt ein miserabler
Flirtversuch. Zudem hatte sie nicht mal einen Lippenstift
aufgetragen, sodass ihre Lippen gar nicht so rot waren, wie er
behauptete.
Als die Hauptspeise kam, fuhr Herr
Wolff mit seinen Komplimenten fort:
„Wissen Sie eigentlich, was Sie für
wunderschöne Augen haben. Sie funkeln so wunderbar. Das gefällt
mir.“
Bei diesen Sätzen hatte er ein
schmieriges Grinsen auf dem Gesicht, was Ruth nun mehr als unangenehm
war. Sie wusste gar nicht, wie sie reagieren sollte, außer zu
lächeln – und dabei komplett rot anzulaufen.
„Das muss Ihnen nicht peinlich
sein“, fuhr er fort. „Ich sage nur die Wahrheit.“
Ruth schwieg weiterhin und tupfte sich
ihren Mund mit einer Serviette sauber.
„Vielen Dank, dass Sie die Einladung
zum Essen angenommen haben!“
Ruth fühlte sich vor den Kopf
gestoßen. Sie fragte sich, ob er dieses Zugessen als offizielle
Verabredung ansah. Ihr wurde bei dem Gedanken übel. Doch Herr Wolff
wollte einfach nicht aufhören:
„Und ich würde mich wirklich sehr
freuen, wenn wir das in Frankfurt wiederholen würden. Bitte lassen
Sie mich nicht hängen und gehen Sie dort mit mir essen.“
Nun musste Ruth reagieren oder er
würde sie festnageln. Sie fand es ja irgendwie nett, wie er sich
bemühte. Schließlich konnte man es auch als Kompliment betrachten,
dass er mit ihr ausgehen wollte. Aber er war einfach zu alt für sie
und außerdem nicht ihr Typ. Er war ein schmieriger Banker
und sie stand eher auf bodenständige Männer. Zudem ging er die
Sache zu forsch an. Das war völlig unromantisch und viel zu
aufdringlich. Daher musste sie ihm nun einen Riegel vorschieben,
bevor er weitere Annäherungsversuche unternahm.
„Herr Wolff, ich fühle mich sehr
geschmeichelt. Aber ich glaube, Sie haben da etwas missverstanden.
Ich finde sie sehr nett, aber lediglich als Nachbarn. Bitte seien Sie
mir nicht böse.“
Da bemerkte sie, wie sich seine Miene
verfinsterte. Sein Lächeln verschwand und er musste heftig
schlucken. Nach einem kurzen Moment des Schweigens, sprach Herr Wolff
weiter:
„Es tut mir leid, ich wollte Ihnen
nicht zu nahe treten. Bitte entschuldigen Sie.“
Ruth fiel ein Stein vom Herzen. Zwar
hatte sie nun ein wenig Mitleid mit ihm, aber andererseits war ihr
Verhältnis geklärt und sie konnten wieder wie normale Menschen
miteinander umgehen.
„Essen Sie noch einen Nachtisch mit
mir?“, fragte er seine junge Begleitung. „Natürlich rein
platonisch“, fügte er hinzu.
Ruth nickte lächelnd. Sie wollte ihn
nicht noch einmal vor den Kopf stoßen und empfand es nur als
höflich, noch das Dessert mit ihm einzunehmen.
Sie bestellten zwei Stück Kuchen und
beim Essen schwadronierte Ruth darüber, wie gut der Kuchen
ist, aber wie sie ihn noch besser hinkriegen würde. Sie war erneut
in ihrem Element und erzählte von der Backkunst. Ihr Gegenüber
hörte ihr schweigend zu und begann wieder freundlicher zu schauen,
was Ruth sehr erleichterte.