Vom
Frankfurter Hauptbahnhof fuhr er mit dem Taxi zur angegebenen
Adresse. Für Robin war es der erste Besuch in der Bankenstadt und er
nahm sich vor, sich die Stadt anzuschauen, bevor er wieder nach Hause
fahren würde. Dafür hätte er sicherlich noch Zeit, denn er würde
heute Nacht im Internat übernachten (außer ihm gefällt es dort
ganz und gar nicht, dann würde er sich ein Hotelzimmer nehmen
müssen).
Als
das Taxi vor dem Gebäude hielt, welches er schon auf dem Foto im
Internet gesehen hatte, stand bereits eine Frau vor dem Tor, die auf
Robin wartete. Als Robin ausstieg und sich seinen Rucksack aus dem
Kofferraum holte, bezahlte die Frau den Taxifahrer. Dieser bedankte
sich und fuhr davon. Erst dann begrüßte sie den Sechzehnjährigen.
Sie streckte ihm die Hand entgegen und stellte sich vor:
„Guten
Tag, Herr Held. Mein Name ist Serafina Funke. Ich werde Ihre Tutorin
sein, falls Sie sich für unsere Schule entscheiden sollten.“
Robin
schaute sich die sympathische Frau genau an. Sie war eine recht
große, sehr schlanke Frau mit kleinen, feuerroten Locken, die ihr
wild über die Schulter fielen. Er schätzte sie auf Ende dreißig,
Anfang vierzig. Sie trug ein schwarzes Sakko über einem schwarzen
Top und dazu eine feine schwarze Samthose. Um den Hals trug sie eine
auffällige Kette aus großen braunen Perlen und schwarzen Steinen.
Sie war mit enem auffälligen Fliederton um die Augen und einem
zarten Rosaton auf den Lippen geschminkt. Ihr strahlend weißes
Lächeln erschien ehrlich.
„Bitte
folgen Sie mir“, forderte sie den Jungen auf.
Sie
öffnete das große Rundtor und bat Robin hindurch zu gehen. Auf der
anderen Seite kamen sie auf einen großen Hof, der von allen vier
Seiten von dem Gebäude umzäunt war. Jetzt wusste der
Sechzehnjährige erst, wie dieses Internat aufgebaut war. Auf dem Hof
war alles mit Stein bepflastert. In der Mitte befanden sich lediglich
vier Ahornbäume, die in einem satten Grün erleuchteten.
„Willkommen auf unserem
Internat“, begrüßte die Tutorin den Jungen. „Vor Ihnen sehen
Sie das Schulgebäude, wo der Unterricht stattfindet. Dort ist aber
auch die Mensa, in der gemeinsam gegessen wird. Dahinter befindet
sich übrigens unsere Sporthalle und unser hauseigenes Schwimmbad.
Rechts und links befinden sich jeweils die Schlafsäle, rechts die
der Jungen und links die der Mädchen. Hinter uns ist das
Verwaltungsgebäude, wo sich die Büroräume sowie Wohnräume der
Lehrkräfte befinden. Hier drüben befindet sich gleich der Eingang,
wenn Sie mir folgen würden.“
Robin
trottete der Lehrerin hinterher und war schon ganz gespannt darauf,
was er noch erfahren würde. Dass hier Jungen und Mädchen streng
voneinander getrennt in zwei verschiedenen Gebäudekomplexen wohnen
würden, fand er nicht so schön, aber damit könnte er leben.
Im
Innern des Verwaltungsgebäudes war der Junge sehr beeindruckt von
dem marmornen Treppenhaus. Sie stiegen hinauf in den ersten Stock, wo
sich das Büro des Rektors befinden würde. Schweigend folgte Robin
seiner eventuell zukünftigen Tutorin. Als sie vor der Tür des
Schulleiters angekommen waren, klopfte Serafina Funke an, um auf sich
aufmerksam zu machen. Es ertönte Quinns Stimme, die Robin schon von
dem Telefonat her kannte. Die Lehrerin öffnete die Tür und
gemeinsam traten sie in das Büro.
Robin
war sehr beeindruckt, denn der Raum des Rektors war recht groß und
eindrucksvoll eingerichtet. Auf dem Boden lag ein schwerer purpurner
Teppich. Außen herum war das komplette Zimmer mit Regalen bestückt,
die voller Bücher waren. Nur die beiden großzügigen Fenster
sorgten für ausreichend Licht. In der Mitte stand ein wuchtiger
schwarzer Schreibtisch, wohinter der Rektor auf einem schwarzen
Drehstuhl saß und dabei seine Hände vor sich ineinander verschränkt
abstützte.
„Guten
Tag, Herr Held!“, hieß er den Sechzehnjährigen willkommen.
„Setzen Sie sich doch bitte.“ Er zeigte auf einen der beiden
Stühle vor sich. Robin trat näher heran, schüttelte die Hand des
Rektors und setzte sich dahin, wo es ihm angewiesen wurde. Serafina
Funke setzte sich neben ihn.
„Es
freut mich, dass Sie den Weg hierher gefunden haben“, fuhr Quinn
fort. Auch er hatte eine recht positive Ausstrahlung, wie Robin
empfand. Er war zwar alt - wohl schon über 60 Jahre alt - und seine
Augen wurden von tiefen Falten umrahmt, aber dennoch strahlte er
etwas Freundliches aus. Sein volles Haar, der Vollbart und seine
buschigen Augenbrauen waren schon mehr weiß als grau. Trotzdem hatte
er eine aufrechte Körperhaltung. Wie sein früherer Rektor an seiner
alten Schule trug Quinn einen grauen Anzug. Sein Sakko trug er über
ein blaues Hemd, welches bis oben hin zugeknöpft war. Nur die
obligatorische Krawatte fehlte.
„Frau
Funke haben Sie ja bereits kennen gelernt. Falls Sie sich dafür
entscheiden würden, unser Internat zu besuchen, wäre sie Ihre
Ansprechpartnerin in allen Belangen. Ich habe sie heute hierher
gebeten, damit Sie sie schon einmal kennen lernen.“
„Vielen
Dank“, entgegnete er dem älteren Herrn.
„Außerdem
besitzt Frau Funke die gleichen Fähigkeiten wie Sie und daher dachte
ich mir, dass Sie durch sie überzeugt werden.“
„Die
gleichen Fähigkeiten wie ich?“, hakte der Junge nach. „Was
bedeutet das? Schon am Telefon haben Sie solche Andeutungen gemacht.
Aber ich verstehe noch nicht ganz.“
„Ich
beherrsche das Element Feuer“, mischte sich nun die nette Tutorin
ein. „Und das können Sie auch, Robin.“
Obwohl
er dies schon ahnte, war er völlig überrascht von dieser Aussage.
Es klang völlig absurd. Er fühlte sich, als ob er eine dieser
Astrologie-Sendungen im Fernsehen schaute, in der irgendwelche
Kartenlegerinnen irgendeinen esoterischen Quatsch erzählten.
„Frau
Funke hat recht. Aber vielleicht sollten wir bei Ihnen von vorne
beginnen. Es scheint für Sie eine komplett neue Angelegenheit zu
sein. Was ich Ihnen jetzt mitteile, wird Ihr komplettes Weltbild
durcheinander bringen. Und das muss zunächst einmal verarbeitet
werden. Fühlen Sie sich dazu trotzdem bereit?“
Robin
zögerte einen Moment, aber schließlich nickte er dem Rektor zu.
„Nun
gut“, begann Quinn, „dann kläre ich Sie nun auf. Auf der Welt
gibt es Menschen mit besonderen Begabungen. Sie können eines der
vier Elemente beherrschen - Feuer, Wasser, Luft oder Erde. Solche
Menschen nennt man Elementaristen. Und Sie sind einer davon.“
Der
Junge hörte den Worten gespannt zu. Er wusste, dass der Mann die
Wahrheit sprach, auch wenn es sich unglaublich anhörte.
„Wir
erfuhren von einem Bekannten aus dem Krankenhaus, indem Sie nach dem
Vorfall in Ihrer alten Schule eingeliefert worden waren, von Ihrer
Fähigkeit.“
„Wie
bitte?“, entfuhr es nun dem Sechzehnjährigen ungewollt.
„Wir
Elementaristen haben unsere Leute überall“, scherzte die nette
Lehrerin und zwinkerte dem Jungen schelmisch zu.
„Was
Frau Funke damit sagen möchte, ist, dass ein Elementarist als Arzt
in diesem besagten Krankenhaus arbeitet und von Ihrem Erlebnis
erfahren hat. Daher vermutete er, dass auch Sie ein Elementarist
sind, womit er anscheinend nicht Unrecht hatte.“
Robin
nickte. Nun verstand er, wie man von seiner Fähigkeit erfahren
hatte. Der Rektor erklärte weiter:
„Unser
Internat bildet nun seit mehr als 50 Jahren junge Elementaristen aus,
damit sie lernen mit ihrer Begabung umzugehen. Unsere Schule ist
einzigartig in Deutschland. Aber im Ausland gibt es weitere solcher
Schulen. Alle nennen sich Haus 4E - natürlich in der jeweiligen
Sprache. Dabei steht 4E für die vier Elemente. Dank diesem Gebäude
verknüpfen Außenstehende diesen Namen mit vier Ecken, weil es
quadratisch angeordnet ist.“
„Und
was bedeutet es nun, dass man ein Element beherrscht?“, wollte
Robin wissen. Serafina Funke antwortete ihm:
„Es
bedeutet, dass man die Energie und die Essenz des Elements nutzen
kann. In Ihrem Falle bedeutet es, dass Ihnen Feuer nichts anhaben
kann. Sie erleiden keine Verbrennungen. Aber wenn Sie weiter an ihrer
Begabung arbeiten, können Sie noch viel mehr. So können Sie
beispielsweise Feuer erscheinen lassen, wo gerade kein Feuer in Sicht
ist.“
„Wie
bitte?“, stieß der Junge hervor.
„Vielleicht
sollten Sie ihm eine kleine Kostprobe vorführen, Frau Funke“,
schlug Quinn vor.
Die
Lehrerin erhob sich von ihrem Stuhl, streckte eine Hand von sich und
ließ einen Feuerball in ihrer Handfläche erscheinen. Erschrocken
schreckte Robin vom Stuhl auf und sprang zurück.
„Sie
brauchen sich nicht zu fürchten, Robin. Es wird Ihnen nichts
passieren.“ Mit diesem Satz schloss sie ihre Hand wieder zu einer
Faust und die Flamme verpuffte im Rauch.
„Wow!“,
rief der Junge aus. „Das ist beeindruckend. Kann ich das wirklich
auch?“
„Noch
nicht“, entgegnete Serafina ihm. „Aber das können Sie hier bei
uns lernen.“
Dies
überzeugte den Sechzehnjährigen und er beschloss, dass er das
Internat besuchen würde.
„Doch
eine Frage habe ich noch: Suchen Sie Ihre Schüler immer auf diese
Weise oder woher wissen Sie von diesem Internat? Die Existenz ist ja
ziemlich geheim. Nicht mal im Internet findet man irgendwelche
Informationen.“
Der
Rektor musste lächeln, bevor er auf diese Frage antwortete:
„Normalerweise
wissen die Elementaristen von ihren Fähigkeiten. Diese Begabung wird
von den Eltern an die Kinder weitergegeben. Und daher melden die
Eltern ihre Söhne und Töchter hier an. Die Betroffenen, wenn man
sie so nennen darf, wissen, woher sie wichtige Informationen über
unsere Gesellschaft der Elementaristen herbekommen.“
„Verstehe“,
entgegnete Robin. Nun wusste er auch, warum er nie etwas davon
wusste. Er war nämlich adoptiert worden. Als Säugling wurde er vor
die Tür seiner Eltern gesetzt, die ihn liebevoll aufnahmen und
aufzogen. Von ihnen hatte er auch seinen Namen erhalten, welcher eine
Zusammensetzung der Namen seiner Eltern war. Sein Vater hieß nämlich
Robert und seine Mutter Ines. Und daraus ergab sich Robin.
Seine
biologischen Eltern mussten also ebenfalls solche Fähigkeiten
besitzen wie er. Sie waren demnach Elementaristen. Und auch wenn er
lange nicht mehr über seine biologischen Eltern nachdachte, die ihn
damals ausgesetzt hatten, kam in ihm nun doch eine Neugierde auf.
Jetzt würde er gerne mehr über sie wissen. Vielleicht konnten diese
Rätsel während seines Aufenthaltes im Internat ebenso gelöst
werden. Das wollte er in der Zukunft erfahren.